Starke Frauen, edle Schurken

Comic François Bourgeon präsentiert ein episches Panorama des 18. und 19. Jahrhunderts, Pascal Bertho und Marc-Antoine Boidin einen modernen Mythos

Es gibt Neues vom Pionier des historischen Comics. François Bourgeon wartet mit einer bildgewaltigen Fortsetzung zu Reisende im Wind auf. In dem gefeierten fünfbändigen Zyklus brilliert der gelernte Glasmaler Bourgeon durch die enorme Detailverliebtheit seiner Bilder und eine beinahe naturalistische Erzählweise. Bei ihm stimmt alles, von der Zahl der Masten auf einer britischen Korvette bis zu den Disziplinarmaßnahmen an Deck.

Reisende im Wind entwirft ein Sittengemälde des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Protagonistin Isabeau de Marnaye, genannt Isa, muss aufgrund einer Intrige Frankreich verlassen und wird mit dem Sklavenhandel zwischen Europa, Afrika und Amerika konfrontiert. Bourgeon zeigt dieses grausame Geschäft in wünschenswerter Deutlichkeit und lässt die 18jährige Isa dagegen aufbegehren.

Überhaupt besticht Bourgeon durch seine starken Frauenfiguren. Das gilt auch für die nun vorgelegte zweibändige Fortsetzung Das Mädchen vom Bois-Caïman. Achtzig Jahre später betritt dort Isabeau Murrait, kurz Zabo, die Bühne. Benannt nach ihrer Urgroßmutter Isa, gleicht sie ihr in Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit. Beide Frauen sind sinnlich und leben eine vergleichsweise selbst bestimmte Sexualität. Ihre Freiheit müssen sie gegen die Normen einer patriarchalen Gesellschaft verteidigen. Manche dieser Kämpfe gehen verloren; Bourgeon mutet seinen Heldinnen einiges zu.

Wie Isa interpretiert Zabo ihre Rolle emanzipierter als es der Zeit entspricht. In gesellschaftlichen Fragen ist ihr die Urgroßmutter aber einen Schritt voraus. Zabo zeigt sich zunächst deutlich empfänglicher für Standesdünkel gegenüber Armen oder Schwarzen. Dazu mag ihre Kindheit auf einer Plantage in Louisiana beigetragen haben.

Während des Amerikanischen Bürgerkriegs verliert die Familie Murrait jedoch ihr Vermögen. 1863 macht sich die knapp 18jährige Zabo als Vollwaise auf die Suche nach ihrem Bruder jenseits der Frontlinien. Unterwegs lernt sie den Fotografen Coustans kennen, der sie auf ihrem risikoreichen Unternehmen begleitet. Coustans sympathisiert vage mit sozialistischen Ideen, zwischen den Reisegefährten entspinnt sich ein verbales Kräftemessen, das in gegenseitige Anziehung mündet.

Dialoge in Kreolisch

Bei einem Zwischenstopp begegnet Zabo erstmals der inzwischen 98jährigen Isa. Fasziniert von der alten Dame, verlängert sie ihren Aufenthalt, um mehr über das Leben ihrer Urgroßmutter zu erfahren. Hier schließt Bourgeon nahtlos an die Reisenden im Wind an, ohne für neue Leser zu voraussetzungsvoll zu werden: Isa lebt 1787 in Saint Domingue auf einer Plantage, an deren Besitzerin sie ein kompliziertes Abhängigkeitsverhältnis bindet.

Die Ideen der Französischen Revolution erreichen langsam die Insel. Auch die Schwarzen erheben sich, aus dem ersten erfolgreichen Sklavenaufstand der Geschichte wird bald darauf Haiti hervorgehen. Unfreiwillig wird Isa – seit langem Gegnerin der Sklaverei – Zeugin einer Versammlung der Rebellen im Bois Caïman. Am Rand des Treffens wird sie vergewaltigt und für tot liegen gelassen. Sie überlebt dank der Hilfe des schwarzen Schreiners Congo, wird aber schwanger. Nach ihrer körperlichen Genesung verlässt sie die Insel in Richtung Louisiana zur Plantage des Naturforschers Louis Murrait.

Bourgeons grafischer Stil ist mit den Jahren ausgereift, er zeichnet facettenreicher denn je. Seine Figuren strotzen vor Leben, ihre Mimik ist extrem ausdrucksvoll. Baustil, Mode oder Pflanzenwuchs sind genau recherchiert, zeitgenössische Dichtung, technische Entwicklungen und politische Debatten werden dezent eingeflochten. Selbst auf Dialoge in Kreolisch verzichtet Bourgeon nicht.

Das Mädchen vom Bois-Caïman bietet mehr als nur die gelungene Fortsetzung einer epischen Serie. Bourgeon entwirft erneut ein großartiges, klischeefreies Panorama der Zeit, das von starken Figuren bevölkert wird. Dabei bestechen insbesondere die Protagonisten durch ihre ausgearbeiteten Charaktere und ihren Hang zu eigenen Wegen.

Die Umstände sind's

Einem historischen Sujet hat sich auch das Duo Pascal Bertho und Marc-Antoine Boidin angenommen. Mit Chéri-Bibi präsentieren sie die Adaption einer Vorlage von Gaston Leroux. Der Schriftsteller veröffentlichte die Geschichte 1913 zunächst in 120 Folgen in der Tageszeitung Le Matin. Der Fortsetzungsroman bildete Anfang des 20. Jahrhunderts eines der Unterhaltungsmedien schlechthin. Was böte sich – neben dem Film – heute für eine Neuauflage an, wenn nicht der Comic?

Leroux’ Stoff vereint alles, was eine populäre Geschichte seinerzeit bieten sollte. Es gibt eine unerfüllbare Liebe über Klassengrenzen, es gibt Intrigen und schreiende Ungerechtigkeit, dazu Abenteuer und eine Rachegeschichte. Komplettiert wird das durch allerlei Verwechslung und Maskerade sowie einen modernen Mythos. Als dessen Personifikation tritt der Metzgerlehrling Jean Mascart auf, aus dem der gefürchtete Mörder und Ausbrecherkönig Chéri-Bibi wird. Der unbehauen wirkende Mascart verkörpert die reine Seele, den die Umstände zum Verbrecher machen.

Durch seine heimliche Liebe zur Reedertochter Cecily wird er in eine Intrige verwickelt. Der Vater seiner Angebeteten und der ihres ungeliebten Verlobten sterben eines gewaltsamen Todes. Chéri-Bibi erweist sich als der ideale Sündenbock – arm, nicht von Adel und zur Hand – und wird im Schnellverfahren abgeurteilt. Seine Odyssee durch Gefängnisse und Strafkolonien beginnt. Immer wieder gelingt Mascart die Flucht, gejagt von seinem persönlichen Feind Kommissar Costaud. Seine Mithäftlinge verehren den Ausbrecherkönig. Er führt sie schließlich zur Meuterei und kehrt nach einer Gesichtsoperation in Gestalt seines Nebenbuhlers zu Cecily zurück. Doch dort erwarten ihn neue Ränkespiele.

Autor Bertho verpackt das große Figurentableau und die zahlreichen Wendungen der Geschichte in eine rasante Erzählstruktur. Charakterstudien und Gesellschaftsporträts interessieren ihn nur am Rande, dafür unterstreicht er gekonnt das Abenteuerliche der Vorlage. Bertho präsentiert den Plot über ineinander verschachtelte Rückblicke. Damit erhöht er die Spannung beträchtlich: Das Drama entfaltet sich nach und nach, manches Geheimnis lüftet sich erst am Schluss.

Den abenteuerlichen Genre-Mix fängt Zeichner Boidin in überbordenden Bildern und leuchtenden, satten Farben ein. Sein expressiver Strich und sein dynamischer Seitenaufbau harmonisieren prächtig mit der temporeichen Erzählweise.

So gelingt dem Duo das keineswegs Selbstverständliche. Ihr Chéri-Bibi transportiert die Romanvorlage nicht nur adäquat in die Comicform. Der Band verspricht obendrein jene gehobene Unterhaltung, die auch Gaston Leroux vor einem knappen Jahrhundert geboten hat.

François Bourgeon: Das Mädchen vom Bois-Caïman Buch 1. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2009, 88 S., 17,80 Euro

Pascal Bertho/ Marc-Antoine Boidin: Chéri-Bibi. Nach einem Roman von Gaston Leroux. Aus dem Französischen von Monia Reichert. Splitter, Bielefeld 2009, 176 S., 22,80 Euro

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