Als "Aphrodisiakum" und "Katastrophe im Kopf" hat Hans Magnus Enzensberger vor 25 Jahren die Apokalypse wegen ihrer Bildgewaltigkeit in einer Kursbuch-Glosse bezeichnet - ihr Titel: Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang. Auch der 11. September 2001 wurde zur unauslöschlichen Katastrophe in unseren Köpfen - wegen der Gewaltigkeit der Medienbilder. Traumatische Szenen, die man am zweiten Jahrestag nicht tatsächlich vor Augen haben muss, um sie zu sehen: das tieffliegende Passagierflugzeug, das auf das höchste Gebäude New Yorks zusteuert und in einem orangefarbenen Feuerball vor hellblauem Morgenhimmel explodiert; verzweifelte Menschen, die aus den Fenstern des brennenden World Trade Center springen; die nacheinander in sich zusammenstürzenden Zwillingstürme; eine schier endlose, sich durch die Straßen wälzende Staubwolke, die davonrennende Menschen vor sich her treibt.
Die Apokalypse des 11. September ist so präsent wie vor zwei Jahren. Man weiß noch genau, wo und mit wem man die zu Ikonen geronnenen Medienbilder gesehen und erlebt hat, die den Komponisten Karlheinz Stockhausen fünf Tage später auf einer Pressekonferenz dazu verleiteten, den Terroranschlag als "größtmögliches Kunstwerk" zu bezeichnen. Bei aller öffentlichen Empörung von damals über diese Aussage darf die Frage nach der ästhetischen Wirkkraft dieser Bilder jedoch kein Tabu bleiben. Auch wenn Stockhausen eindimensional aus der Sicht eines Künstlers argumentiert haben mag, sollte seine Deutung dieses einschneidenden Ereignisses zumindest unter dem Aspekt medial vermittelter Wirklichkeiten zu denken geben und Anstoß für einen selbstkritischen Rückblick über die Berichterstattung der Medien in Krisenzeiten sein. Man muss sich stets vergegenwärtigen, dass es nicht die Anschläge selbst sind, die Stockhausen erinnert - ausgenommen, er wäre an jenem Septembermorgen vor Ort gewesen. Vielmehr berief er sich auf die Montagen, Ausschnitte und Vergrößerungen eines Ereignisses, wie es von den Bildmedien präsentiert und gerahmt wurde. Gerade der Umstand, dass die Terrorbilder für einen Moment so surreal wie Szenen einer Hollywoodproduktion wirkten , und die Realität zunächst nur in fiktionalen Kategorien begreifbar war, deutet auf die spezifischen Produktionsbedingungen, Konstruktionsverfahren und Wahrnehmungsmuster der visuellen Medien hin: Das durch die elektronischen "Seh- und Abbildmaschinen " (Günter Anders) vorgeprägte kollektive Bewusstsein spielte dem Publikum letztlich einen Streich, indem es ausschließlich den Vergleich mit unseren eigenen imaginären Katastrophen im Kopf zuließ.
Den fragmentarischen, konstruierten Charakter der Ereignisse vom 11. September und die Art und Weise, wie sie jetzt erinnert werden, entlarven vor allem die tausendfachen Wiederholungen und Endlosschleifen, die für Medienschaffende und Zuschauer eine gewisse Faszination ausstrahlten - und es offenbar heute noch tun. Die "aphrodisierende" Wirkung der symbolischen Schlüsselbilder, die nach den Anschlägen ein Millionenpublikum tagelang vor den Fernsehschirmen fesselten, ließ nicht nur die technischen Möglichkeiten der globalisierten Mediensphäre erahnen, rund um die Uhr an fast allen Orten der Welt sofort auf Sendung zu gehen. Die Live-Übertragungen des Terrors schufen zudem ein Zerrbild der Medien- und Informationsgesellschaft: die besinnungslose, massenhafte Verbreitung der immergleichen Sequenz des zweiten Einschlags in den Südturm mündete zeitweise in einen kaum zumutbaren Terror der Bilder, der zugleich den journalistischen Zwang zur Bebilderung offenbarte. Die ambivalente Grenzerfahrung, die Journalisten an jenem Tag machten war, dass sie zeitweilig auch nicht mehr wussten als die Zuschauer - und trotzdem ihrer Rolle als Welterklärer gerecht werden mussten. Man darf es dem Journalismus sicher nicht verübeln, dass er an jenem Tag weniger den erlernten zeitraubenden Professionsregeln und -standards (verlässlich zu informieren und treffsicher zu kommentieren) als dem Willen zu kurzatmiger Aktualität gehorchte: Es handelte sich wohlgemerkt um eine bisher beispiellose Ausnahmesituation. Doch auch in ihrer routinemäßigen Erinnerungsfunktion, wie an Jahrestagen, neigen die visuellen Medien dazu, ihrer Fixiertheit auf Bilder zu erliegen - mit der Konsequenz, dass weniger bilderreiche Geschehnisse vielfach vernachlässigt, mitunter vergessen werden. Zweifellos ist das lediglich mit verfügbarem Bildmaterial ausgewählte Themenspektrum zu klein, um das heutige Weltgeschehen in seiner Komplexität abzubilden. Trotz des Wissens um diese banale Erkenntnis werden wichtige, auch aktuell berichtete Ereignisse ohne Bildattraktionen, etwa Friedensverhandlungen, von TV-Machern grundsätzlich als problematisch eingestuft und haben es schwer, im Fernsehen überhaupt vorzukommen. Umgekehrt werden im Zeichen der Krise wegen des chronischen Bildermangels - nicht selten verursacht durch Zensurmaßnahmen von Militär und Regierungen - weniger bedeutende Nebenereignisse hochgespielt und unnötig dramatisiert: Wenn das Fernsehen und seine Macher in solchen Fällen die Inszenierungshoheit über das Ereignis verlieren, wird die Endlosschleife schon mal zur Studiodekoration umfunktioniert und die erschütterndsten Bilder des Tages - unterlegt mit den melancholischen Klängen eines Popsongs - zur Informationscollage montiert, wie es am 11. September 2001 und auch am ersten Jahrestag 2002 auf vielen Kanälen zu beobachten war. Derlei mediale Ritualisierungen haben indes ihren Preis: Das Fernsehen lässt den Zuschauer im Glauben an ein geradezu naives Realitätsbild, das jedem Verständnis komplexer Zusammenhänge entbehrt. Dabei sind Krisenereignisse wie der 11. September nicht nur vom Fernsehen berichtete, sondern ebenso interpretierte Geschehnisse und folgen in ihrem Erzählduktus stets einem ähnlich ablaufenden Strickmuster. Das gilt für die apokalyptische Bildsprache in Krisensituationen genauso wie für die Programmgestaltung der unterschiedlichen TV-Anbieter.
Aus Perspektive einer ritualorientierten Medienwissenschaft, die Kommunikation als Abfolge habitualisierter, im kulturellen Gedächtnis von Journalisten und Publikum tief verwurzelter Handlungsinterpretationen begreift, lässt sich die Folgeberichterstattung des 11. September senderübergreifend in fünf Phasen denken. Diese Phasen, die selten trennscharf verlaufen, sondern sich überlagern oder vielmehr: einander bedingen, beschreiben den standardisierten Verlauf so genannter medialer "Themenkarrieren", also wie sich zum Beispiel die Berichterstattung von Krisenereignissen über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt und verändert: Ein Erklärungsmodell, das moderne Medienphänomene in einen gesellschaftlichen Kontext einzubetten versucht und damit einen durchaus ernst zu nehmenden Gegenentwurf darstellt zur gängigen, aber in die Jahre gekommenen Nachrichtenwerttheorie, die nach wie vor das stumpfsinnige Auszählen quantifizierbarer Faktoren zum einzig wahren Messkriterium medienvermittelter Wirklichkeit erklärt.
"Liveness" ist die erste Phase unmittelbarer zeitlicher Nähe der Berichterstattung zum tatsächlichen Ereignis, gekennzeichnet durch zahlreiche Live-Schalten, Korrespondenten-Anrufungen und Experten-Befragungen im Studio während der laufenden Sendung. In der Regel werden andere Geschehnisse während dieser Phase marginalisiert und haben kaum eine Chance, berichtet zu werden: Fast alle Fernsehanbieter strahlen eigens produzierte Sonder- und Spezialsendungen in der Machart eines "Brennpunktes" aus; auch die Titelseiten der Tagespresse kennen kein anderes Thema. Repräsentationstechniken wie Zeitlupen und Wiederholungen, auch am 11. September massiv eingesetzt, verstärken den Effekt einer Live- und Quasi-Live-Atmosphäre.
"Ästhetisierung" benennt die zweite Phase, in der das Fernsehen dem Ereignis einen Interpretationsrahmen verleiht und dem Zuschauer ein mediales Äquivalent für das ursprüngliche Geschehen anbietet. Dabei kommen eigens entworfene Logos ("Terror gegen Amerika", "Krieg gegen den Terror"), Trailer, Montagen, Split-Screen-Verfahren und andere ästhetisierende Gestaltungsmittel zum Einsatz. Mehrere Einzelereignisse, die womöglich zur Krise geführt haben, erscheinen als zusammenhängendes, kontinuierliches Metaereignis. Erste Einschätzungen von Moderatoren, Korrespondenten und Kommentatoren führen zwangsläufig zu einer voreingenommenen Sicht auf die Dinge. Und suggerieren: Das Fernsehen hat alles fest im Griff.
"Dramatisierung" bezeichnet als dritte Phase den Aufbau eines medialen Spannungsbogens: Da es zu einem späteren Zeitpunkt des Ereignisses kaum mehr Neues zu berichten gibt, werden aus weniger wichtigen Nebenaspekten neue Top-Themen herauskonstruiert: Weil das ursprüngliche Ereignis nicht mehr "trägt", verwenden die Medien die schicksalhaften Geschichten von Tätern, Rettern und Opfern als dramaturgisches Mittel, um das Publikum bei der Stange zu halten. Gleichzeitig werden polarisierende Freund-Feind-Bilder etabliert, die in patriotischen Selbstdarstellungen über Triumph und Niederlage gipfeln. Mit diesen archetypischen Erzählungen von Gut und Böse erreicht die Berichterstattung ihren Höhepunkt: dem Bedürfnis des Zuschauers nach Orientierung wird entsprochen, indem die Medien eine offizielle Lesart des Ereignisses vermitteln.
Die vierte Phase der Nachberichterstattung lässt sich mit dem Begriff der "Ritualisierung" charakterisieren. Vereinzelte Schlüsselbilder und -begriffe werden aus dem ursprünglichen Ereigniskontext herausgelöst und werden zum Medien-Ritual. Das heißt, sie dienen Journalisten nunmehr als anekdotenhafte Zusammenfassungen: Da komplizierte Hintergründe auf einzelne Symbole, Etiketten und Phrasen ("Nichts ist mehr, wie es war") verkürzt werden, die nur einen Bruchteil des ursprünglichen Geschehens darstellen, entsteht eine Illusion der Aufklärung. Die letzte Phase der Krisenberichterstattung, die Historisierung, bildet den vorläufigen Abschluss der Themenkarriere. An Jahrestagen wie dem diesjährigen 11. September wird dem Ereignis üblicherweise ein Denkmal in den Medien errichtet, etwa durch Gedenkfeiern zu Ehren der Opfer und Retter, die wiederum live vom Fernsehen übertragen werden. Gedenktage, Jubiläen und ähnliche Anlässe sind nur noch Ereignisartefakte mit aufgeladener Bedeutung: Sie beschleunigen das Erinnern ebenso wie das Vergessen, indem einige Archivaufnahmen des Ereignisses als historisches Wissen betrachtet werden. "Der 11. September gehört zu den Ereignissen, die nie mehr aus unserer Geschichte verschwinden werden", schreibt Norman Mailer in seinem neuesten Bestseller Heiliger Krieg: Amerikas Kreuzzug. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es nicht die Krise selbst ist, die unser historisches Bewusstsein nachhaltig geprägt hat, es sind die apokalyptischen Medienbilder, wie wir sie wochenlang im Fernsehen mitverfolgt haben. Dass aller Welt diese Bilder zwei Jahre später derart lebendig im Gedächtnis geblieben sind, auch ohne sie noch einmal zu sehen, spricht in diesem Sinne für sich.
Der Autor ist Medienwissenschaftler am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg und Mitherausgeber des Buches Bilder des Terrors - Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, erschienen im Kölner Verlag H. von Halem.
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