Alternative zur Ampel

Koalition Eine rot-grüne Minderheitsregierung ist undenkbar? Von wegen – sie würde der Demokratie sogar guttun
Ausgabe 39/2021

Mit den Ampeln ist das so eine Sache: Wenn alle Farben gleichzeitig leuchten, gibt es entweder Chaos oder Stillstand. Und auf jeden Fall gilt „rechts vor links“. An der politischen Kreuzung zwischen dem Weg zur sozial-ökologischen Transformation und der marktliberalen Sackgasse ist das nicht anders. Da muss es schon verwundern, wie zum Beispiel Grünen-Philosoph Robert Habeck von der politischen Ampel schwärmt, an der Rot, Gelb und Grün gemeinsam in die Zukunft leuchten sollen.

Wahrscheinlicher ist, dass eine Ampelkoalition mit der „großen“, die wir hinter uns haben, eine fatale Gemeinsamkeit aufweist: Die immerhin vorhandenen Reformansätze in der rot-grünen Programmatik dürften von vornherein in ein Kompromiss-Korsett mit der Ideologie der FDP gepresst werden, das – zusammen mit dem unausrottbaren Dogma der Koalitionstreue – die Räume für notwendige Veränderungen gefährlich einengt. Aber ist die Ampel nicht alternativlos, zumal die verbleibenden Alternativen Schwarz-Grün-Gelb oder Rot-Schwarz erst recht Blockade und Stillstand bedeuten würden? Das ist ein gutes Argument – allerdings nur, solange eine andere Möglichkeit ausgeschlossen wird: die Minderheitsregierung.

Diese Variante unterliegt in Deutschland einem seltsamen Tabu. Eine so große und wichtige Macht brauche „Stabilität“, also Mehrheitsregierungen, heißt es oft. Aber was ist das für eine Stabilität, wenn eine Regierung vier Jahre lang vor dem Parlament, das sie doch eigentlich kontrollieren sollte, sicher sein kann? Kleine Änderungen an diesem oder jenem Gesetz im Ausschuss, das geht noch. Aber im Prinzip ist Abnicken Pflicht.

Im Gegensatz dazu würde eine Minderheitsregierung natürlich mehr Unberechenbarkeit bedeuten. Sie müsste sich die Mehrheiten für Gesetze erst suchen, was zwar in diesem Land allgemein als unzumutbar gilt, aber eigentlich zu den Kernelementen parlamentarischer Demokratien gehört. Sie müsste Kompromisse machen, sicher. Aber eben nicht in Koalitionsverträgen, die geschrieben werden, bevor überhaupt der Kanzler gewählt ist. Sondern im jeweils konkreten Fall und je nach Inhalt mit unterschiedlichen Teilen der Opposition.

Das ist nicht einfach, und im neuen Bundestag würde es noch schwieriger. Denn für Rot-Grün, die am ehesten denkbare Minderheitsregierung, würden die Stimmen der geschwächten Linkspartei bei Themen wie Mindestlohn oder Mietendeckel auch nicht reichen.

Komplizierter, aber lebendiger

Das allerdings ist der Witz an Minderheitsregierungen: Wer eh schon Mehrheiten hat für eine gemeinsame Politik, kann auch gleich ein Regierungsbündnis schließen (was Olaf Scholz mit der Linkspartei nicht getan hätte, aber das ist ein anderes Thema). Oder umgekehrt: Die neue Unübersichtlichkeit des Parteiensystems, in dem kein „Lager“ mehr die Mehrheit hat, legt den Gedanken einer Minderheitsregierung erst richtig nahe. Ein Kanzler Olaf Scholz (der übrigens im dritten parlamentarischen Durchgang mit einfacher Mehrheit gewählt werden könnte) müsste zwar den Kompromiss auch mit Teilen von FDP oder CDU/CSU suchen – aber eben nicht in einem vorher in Stein gemeißelten Koalitionsvertrag, sondern jeweils ganz konkret im Einzelfall. Was umso leichter fiele, als der Ausgangspunkt für diese Kompromisse die konsistente Programmatik einer aus „verwandten“ Parteien gebildeten Regierung wäre. Dieses Modell hat allerdings noch einen anderen, gewichtigen Vorteil: Das Stabilitäts-Argument der Kritikerinnen und Kritiker wendet sich gegen sie selbst.

Warum das? Weil die vermeintliche Stabilität von Mehrheitsregierungen in Wahrheit die Fundamente des parlamentarischen Systems auszuhöhlen droht. Ein Bundestag, der zwar heftig debattiert, allerdings meistens über Ergebnisse, die schon vorher feststehen – das ist eine Steilvorlage für alle, die an der Wirksamkeit demokratischer Kontrolle in diesem System zweifeln oder es (nicht selten begleitet von absurden Verschwörungsmythen) von vornherein verachten.

Der Parlamentarismus hat dringenden Bedarf, lebendiger zu werden. Er muss wieder lernen, Entscheidungen aufgrund offener Debatten statt nach Vorgaben einer von Lobbys und Interessen beeinflussten Exekutive zu fällen. Er muss sich die Aufgabe stellen, mit krisenhaften Entwicklungen oder Impulsen aus der Zivilgesellschaft ohne Angst vor „wechselnden Mehrheiten“ umzugehen. Er muss sich, kurz gesagt, demokratisieren. Geschieht das nicht und verharrt das politische Personal in einer als „Stabilität“ missverstandenen Bewegungslosigkeit, wird sich die jetzt schon klaffende „Repräsentationslücke“ vergrößern, und die Akzeptanz für parlamentarische Entscheidungen wird weiter schwinden – eine Steilvorlage für die rechtsextremen Kräfte, die genau das wollen.

Ja, Minderheitsregierungen sind kompliziert. Aber womöglich wären sie ein Meilenstein auf dem Weg zu einer wirklich stabilen, weil lebendigen Demokratie.

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