Hier ist die gute Nachricht: Die Grünen stellen das Pariser Klimaabkommen nicht infrage, die Vorsitzende Annalena Baerbock hat diese Gefahr in letzter Minute abgewendet. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen seltsam: Was musste da abgewendet werden? Was sollten ausgerechnet Grüne gegen einen Vertrag haben, der die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf „deutlich unter zwei Grad“ fordert? Was sollte sie daran stören, dass das Abkommen von 2015 „Anstrengungen“ vorsieht, um auf maximal 1,5 Grad zu kommen?
Natürlich hat niemand bei den Grünen etwas gegen diese Ziele, und doch hat Annalena Baerbock während des Parteitags am vergangenen Wochenende so getan, als müsse sie sie verteidigen: „Am Pariser Vertrag zu rütteln – und sei es noch so gut gemeint –, verhindert doch gerade, dass wir ihn gemeinsam endlich mit Leben füllen.“ Warum?
Die Auflösung ist einfach: Die Unterstellung der Parteivorsitzenden, jemand wolle am Pariser Abkommen „rütteln“, richtete sich gerade nicht gegen eine Aufweichung der Ziele, die hatte in der Tat niemand verlangt. Es ging im Gegenteil um die Forderung nach ehrgeizigeren Vorgaben im neuen Grundsatzprogramm. Gegen sie wandte sich Baerbock, aber ihr Argument war ungefähr so stichhaltig, als warne jemand einen schwer Übergewichtigen davor, an seinem Diätplan zu „rütteln“, weil er sich vornimmt, stärker abzunehmen als vom Arzt als Mindestziel verordnet.
Der Antrag, den Baerbock am Ende wegverhandelte, hatte lediglich vorgesehen, das 1,5-Grad-Ziel als „Maßgabe“ grüner Politik ins Grundsatzprogramm zu schreiben. Aber auch das war der Parteiführung schon zu viel.
Heraus kam eine Formulierung, die aus der „Maßgabe“ eine derart abstrakte „Notwendigkeit“ macht, als wäre sie schon das Ergebnis wochenlangen Ringens um einen Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU: „Zentrale Grundlage unserer Politik ist das Klimaabkommen von Paris sowie der Bericht des Weltklimarates zum 1,5-Grad-Limit, der verdeutlicht, dass jedes Zehntelgrad zählt, um das Überschreiten von relevanten Kipppunkten im Klimasystem zu verhindern. Es ist daher notwendig, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Dafür ist unmittelbares und substanzielles Handeln in den nächsten Jahren entscheidend.“
Was Baerbocks Intervention so interessant macht: Sie lässt sich als Beispiel jenes visionsgehemmten Superpragmatismus begreifen, den sich die Partei in ihrer Sehnsucht nach der „Mitte“ angewöhnt hat. Sollte nicht zumindest ein Grundsatzprogramm der Selbstvergewisserung über eigene Ideen dienen statt dem vorauseilenden Gehorsam gegenüber vermeintlichen Macht- und Mehrheitsverhältnissen? Stattdessen werden wichtige Ziele von vornherein auf die Dimension möglicher Koalitionskompromisse geschrumpft.
Das ist nicht etwa deshalb ein Problem, weil Koalitionen und Kompromisse an sich von Übel wären. Es ist ein Problem, weil nun auch die Grünen vor lauter Offenheit nach allen Seiten einen grundlegenden Inhaltsstoff funktionierender Demokratien vernachlässigen: Wer gute Kompromisse erzielen will, sollte sie nicht vorwegnehmen, bevor das Verhandeln überhaupt beginnt. Sonst werden Profile abgeschliffen und Debatten so weit entschärft, dass unterschiedliche Richtungsangaben im demokratischen Spektrum immer schwerer zu erkennen sind. Eine Steilvorlage für die extreme Rechte, die die etablierten Parteien so gern als „Kartell“ beschimpft.
Das ändert nichts daran, dass die grüne Programmatik der SPD und der Linkspartei immer noch deutlich nähersteht als der Union. Aber genau das wollen Baerbock und ihr Kompagnon Robert Habeck nicht laut sagen, weil sie hoffen, auch in der Anhängerschaft der Merkel-CDU zu punkten.
Nur vergessen sie dabei eines: Die Vorstellung, dass ein linkes Parteienbündnis mit Unterstützung gesellschaftlicher Bewegungen für eine spürbare Wende sorgen könnte, gerät dabei in der Öffentlichkeit so sehr aus dem Blick, dass der Wechsel wieder scheitern könnte – selbst wenn die Mehrheiten dafür vorhanden wären.
Während des Parteitags ging übrigens in Hessen die Räumung des Dannenröder Forsts weiter, der einer Autobahn weichen soll. Während die Grünen im Bund die A49 offiziell ablehnen, zieht ihr Parteifreund Tarek Al-Wazir den Bau als Landesverkehrsminister durch. Dazu sei er, so Al-Wazir, durch Bundestagsbeschluss und Rechtsprechung gezwungen. Tatsächlich hat das Bundesverwaltungsgericht zuletzt eine Klage gegen den Bau abgewiesen – allerdings verbunden mit dem Hinweis, dass die wasserrechtliche Prüfung nach EU-Recht „fehlerhaft“ war. Zu einer Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses führte das nicht, aber: „Gegebenenfalls können erforderliche Schutzmaßnahmen nachträglich angeordnet und die rechtlich selbständigen wasserrechtlichen Erlaubnisse angepasst oder sogar widerrufen werden.“
Das Urteil zitiert auch Al-Wazirs Ministerium auf seiner Homepage; es habe sich entschlossen, „noch einmal genau prüfen zu lassen, dass die … Vorgaben des Planfeststellungsbeschlusses mit der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich der speziellen Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie im Einklang stehen“. Die Regierung lässt prüfen, „dass“ – nicht etwa „ob“ – sie recht hat. So geht grüner Pragmatismus heute.
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