Demokratie und Freiheit gibt es nicht ohne Zeitenwende in der Migrationspolitik
Meinung Angesichts des Ukraine-Kriegs legt die Bundesregierung ein 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm auf. Für die Integration von Geflüchteten gibt es hingegen kein Geld. Denn der Migrationspolitik fehlen humanitäre Visionen
Reinhard Sager ist nicht ganz so bekannt wie Olaf Scholz, aber im Gebrauch großer Begriffe steht er dem sozialdemokratischen Bundeskanzler in nichts nach: Deutschland steht vor einer „Zeitenwende“, verkündete der CDU-Politiker vergangene Woche, und er meinte ausnahmsweise nicht den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Jedenfalls nicht direkt. Es ging um die Aufnahme Geflüchteter in deutschen Städten und Kreisen, die Kosten der sogenannten Integration und die Weigerung des Bundes, dafür mehr Geld herauszurücken.
Sager ist Landrat des Kreises Ostholstein und Präsident des deutschen Landkreistages. Was genau er mit der Zeitenwende meint, führte er bei der Pressekonferenz zum „Flüchtlingsgipfel“ mit Bundesinnenministeri
nministerin Nancy Faeser (SPD) nicht aus. Deutlicher wurde sein christdemokratischer Parteifreund Peter Beuth, Innenminister in Hessen: „Wir können uns nicht nur darum kümmern, wie wir noch mehr Personen bei uns unterbringen können.“ Das ist der Sound, den die CDU inzwischen wieder fast täglich hören lässt, offensichtlich ohne jede Berührungsangst mit der Propaganda der AfD: Nicht die Bewältigung der Migrationsbewegungen steht im Mittelpunkt, sondern deren Verhinderung, damit es erst gar nicht „noch mehr Personen“ nach Deutschland schaffen. Es geht um eine Zeitenwende, die in Wahrheit keine wäre, denn sie stellt nichts anderes dar als eine Radikalisierung der längst praktizierten deutsch-europäischen Abschottungspolitik. Da werden dann auch die eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor Putins Gewaltattacke hierher geflüchtet sind, ganz schnell von herzlich empfangenen Symbolfiguren des Kampfes um den „freien Westen“ zu „noch mehr Personen“, die das reichste Land der EU nun mal leider nicht verkraftet.Es gäbe natürlich auch eine andere Möglichkeit, den Begriff „Zeitenwende“ in Sachen Migration mit Inhalt zu füllen. Sie könnte darin bestehen, sich nicht inhaltlich, aber strategisch an dem Motiv zu orientieren, dem Olaf Scholz bei der Verwendung des großen Wortes in Sachen Ukraine-Krieg folgte. Zeitenwende war die Chiffre für den Beginn einer Epoche, in der Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat mit allen denkbaren Mitteln zu verteidigen sind. Es war die Legitimation für ein 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm, massive Steigerungen des Militäretats, den Abschied von Leitlinien wie Ausgleich mit Russland oder restriktivem Vorgehen bei Rüstungsexporten.Was immer man von den einzelnen politischen Entscheidungen hält (durchgehend falsch waren sie so wenig wie ausnahmslos richtig): Am Geld, das war schnell klar, sollte die „Zeitenwende“ nicht scheitern. Und wo es an Infrastruktur, Material und Möglichkeiten fehlt, da sollen sie eben geschaffen werden. Längst stellt dies in Sachen Rüstung und militärischer Verteidigung gegen Russland fast niemand mehr infrage, jedenfalls nicht im politischen Berlin. Wenn gestritten wird, dann allenfalls darüber, ob es mit dem radikalen Ausbau der militärischen Kapazitäten auch schnell genug geht.Zeitenwende beim Thema MigrationWenn das die Zeitenwende in Sachen Russland ist, wie sähe sie dann beim Thema der Geflüchteten aus?Erstens: Am Geld könnte und würde das Unternehmen nicht scheitern, für Geflüchtete Unterkünfte, Schulplätze, Sprachkurse und Hilfen bei der Jobsuche bereitzustellen. Das wäre schwer, denn es stimmt ja, dass es in Deutschland an Wohnungen fehlt, an Material und an Personal ebenso (an Jobs eher nicht). Aber hat jemals jemand gehört, dass Deutschland wegen der Inflation weniger Waffen kaufen will? Nein, dann muss eben noch mehr Geld her – das wäre mal ein gutes Vorbild für eine humane Aufnahmepolitik in Sachen Migration! Stattdessen endete Nancy Faesers „Flüchtlingsgipfel“ ohne jede Zusage des Bundes, den Kommunen mehr Geld zur Verfügung zu stellen.Zweitens: Auch am fehlenden politischen Willen würde eine Migrations-Zeitenwende nach dem Ukraine-Modell nicht scheitern. Meldungen wie die folgende gäbe es nicht mehr: „Die Länder und Kommunen lassen dem Bundesinnenministerium zufolge mietfrei überlassene Bundesliegenschaften zur Unterbringung von Geflüchteten ungenutzt. Während in Thüringen aktuell 96 Prozent der Plätze belegt seien, seien es in Sachsen nur 18 Prozent. Sachsen-Anhalt beanspruche gar keine.“ So der Evangelische Pressedienst Anfang Februar. Aus vorauseilender Anpassung an die AfD selbst vorhandene Kapazitäten nicht zu nutzen – das wäre Vergangenheit.Drittens: Das „Dublin-System“, das die Staaten an den europäischen Außengrenzen viel zu lange mit den Ankommenden alleingelassen hat, würde ersetzt durch den fairen Verteilungsmechanismus, von dem in der EU seit Jahren die Rede ist, der aber noch immer nicht funktioniert. Ja, auch das wäre politisch nicht einfach. Aber haben wir nicht gesehen, zu welchen Neuorientierungen im öffentlichen Diskurs Politik in der Lage ist, wenn sie mal das eigene Wort von der Zeitenwende ernst nimmt?Das alles wirkt, zugegeben, fast illusorisch. Aber niemand kann heute noch behaupten, politische Umkehr sei ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn die bisherige, ganz große Koalition der Flüchtlingsabwehrpolitik es wollte, dann könnte sie etwas ändern. Aber sie will nicht.Abschottung ist keine LösungStattdessen halten Deutschland und Europa an der zweiten Variante von „Zeitenwende“ fest: Sie radikalisieren eine Politik, die so tut, als hätte sie den Unterschied zwischen einer kriegerischen Aggression und der Flucht von Menschen vor Gewalt und Not nicht verstanden. Fluchtbewegungen stellen sich aus dieser Sicht als „irreguläre“ Bewegung von „noch mehr Menschen“ dar, die Deutschland und Europa unter „Migrationsdruck“ setzen, als täten sie das aus Spaß. Abschotten und Abschieben, lautet die Antwort, wenn man Migration erstmal derart als Bedrohung definiert hat.Das Budget der europäischen „Grenzschutz“-Agentur Frontex wurde allein zwischen 2020 und 2022 mehr als verdoppelt, von 364 auf 754 Millionen Euro, 2015 lag es bei 142 Millionen. Und genauso geht es weiter: Kurz vor dem deutschen „Flüchtlingsgipfel“ haben sich die EU-Staaten darauf verständigt, zunächst in einem Pilotprojekt an der bulgarisch-türkischen Grenze die Kunst des Dichtmachens zu perfektionieren: Den Bau von Wachtürmen und Straßen, den Kauf von Fahrzeugen und Kameras wird die Europäische Union unterstützen. Nur die dazugehörigen Zäune oder Mauern müssen die Verantwortlichen vor Ort dann alleine bauen, einstweilen. Nebenbei bemerkt: Allein 2022 wurden im Mittelmeer 1940 Flüchtende getötet oder vermisst.So sieht sie aus, die längst erfolgte „Zeitenwende“. Sie fortzusetzen, bedeutet, die in der Tat belastenden Probleme der Kommunen bei der Aufnahme durch noch mehr Abschottung zu „lösen“, auch wenn sich das längst nicht nur als inhuman erwiesen hat, sondern angesichts der weltweit grassierenden Fluchtursachen als schlicht unpraktikabel.Das ist nicht nur für die CDU/CSU kein Hinderungsgrund, das Lied der Abschottung immer lauter zu singen. Auch die SPD-geführte Regierung ist nicht damit aufgefallen, am Grenzregime der Flüchtlingsabwehr irgendetwas zu ändern, sie denkt gar nicht daran. Und bei den Grünen, als Koalitionspartei in diesen Fragen eher beschämt schweigsam, gibt es jetzt erste Versuche, sich das Abschottungsmantra offensiv zu eigen zu machen. Gerade hat eine parteiinterne Gruppe namens „Vert Realos“ ein Memorandum veröffentlicht, das nicht nur das grundgesetzlich garantierte Asylrecht für politisch Verfolgte vom „Einordnen“ der „Asylempfänger“ in die „geschichtlich gewachsene gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland“ abhängig macht, sondern auch „Aufenthaltszonen“ (sprich: Lager) außerhalb der EU für Asylsuchende fordert.Das ist exakt der Begriff von „Zeitenwende“, den der ostholsteinische Landrat Sager gemeint haben dürfte. Aber ist unsere Gesellschaft wirklich so abgestumpft, dass sie dieser schwarz-rot-gelb-grünen „Idee“ keine humanitäre Vision entgegenzusetzen hat?
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