Noch eineinhalb Jahre, dann hat die FDP etwas zu feiern. Vielleicht den Wiedereinzug in den Bundestag, wer weiß das schon, die Umfragen sind knapp. Aber auf jeden Fall gibt es ein Jubiläum: Die „Freiburger Thesen“, verabschiedet im Oktober 1971, werden 50 Jahre alt. Wer noch einmal hineinschaut, kann ermessen, wie weit „die Liberalen“ heute von der Idee eines aufgeklärten, sozialen Liberalismus entfernt sind. Und wie nah sie anderen politischen Kräften kommen, die den liberalen Kernbegriff der Freiheit in populistischer Weise missbrauchen.
Damals hatten die Protagonisten der Erneuerung, darunter der Parteivorsitzende Walter Scheel sowie der in Freiburg zum Generalsekretär gewählte Karl-Hermann Flach, vergleichsweise Großes im Sinn: Sie wollten den historisch gewachsenen Liberalismus, der die Autonomie des Individuums gegen autoritäre Herrschaft zum Inhalt hatte, durch eine Kernvoraussetzung individueller Freiheit vervollständigen: den Anspruch auf Lösung der sozialen Frage. Mit Formulierungen, die der heutige Parteichef als sozialistische Enteignungsfantasien verurteilen würde, forderten sie „die Ergänzung der bisherigen liberalen Freiheitsrechte und Menschenrechte durch soziale Teilhaberechte und Mitbestimmungsrechte“.
Revolutionär war das Ganze nicht, die Freiburger Thesen gingen ausdrücklich von einer zentralen Rolle des privaten Eigentums aus. Aber die Erneuerer glaubten damals an so etwas wie einen egalitären Kapitalismus. Sozialliberal, das sollte heißen, dass jeder und jedem die Chance eröffnet wird, etwas zu besitzen.
Hinzu kam die Berufung auf die gesellschaftlichen Umwälzungen von 1968 und die Entspannungspolitik, die Walter Scheel als Willy Brandts Außenminister mit exekutierte und die die Niederlage des nationalliberalen Parteiflügels zu besiegeln schien. Dessen Symbolfigur, der ehemalige FDP-Vorsitzende Erich Mende, war schon 1970 aus Protest gegen Brandts und Scheels Ostpolitik zur CDU übergetreten.
Vor diesem Hintergrund wird die Strategie des aktuellen Vorsitzenden Christian Lindner besonders deutlich. Er experimentiert damit, die Partei zum Scharnier zwischen bürgerlichem Marktliberalismus und neurechtem Radikalpopulismus zu machen.
Die Rückkehr der FDP zur Staatsverachtung des Neoliberalismus in ökonomischen und sozialen Fragen hat ja lange vor Lindner stattgefunden. Nun aber fügt der aktuelle Parteivorsitzende der neoliberalen Programmatik eine erstaunliche Entwertung der durchaus antiautoritären, widerständigen Elemente bei, die im Freiheitsbegriff des parteigewordenen Liberalismus ja immer auch enthalten waren.
Diese Neuausrichtung ist seit dem Herbst der Geflüchteten 2015 zu beobachten. Christian Lindner hat seither kaum eine Gelegenheit ausgelassen, dem Protest von rechts gegen die angeblich so liberale Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Stimme zu verleihen, die den national gefärbten Abwehrreflexen einen scheinbar seriösen, in gutbürgerlichen Kreisen anschlussfähigen Klang verleiht. Im Jahr 2018 sprach er sich für Zurückweisungen an der Grenze aus und stellte sich damit gegen Merkel auf die Seite von Horst Seehofer. Er forderte, Migrantinnen und Migranten nach „Bedürftigkeit und Arbeitsmarktnähe“ zu sortieren. Und wer im Mittelmeer gerettet wird – was Lindner großzügigerweise befürwortet –, soll erst einmal „an den Ausgangspunkt der Reise“ zurückgebracht werden.
Slogans für den rechten Rand
Von einem neuen Nationalliberalismus lässt sich sicher nicht reden, denn der Marktradikalismus setzt möglichst unregulierte globale Produktions- und Lieferketten voraus, also durchaus offene Grenzen – solange es nicht um Geflüchtete, sondern um Waren- und Kapitalströme geht. Was Lindner anstrebt, wäre vielmehr am ehesten als marktradikaler Populismus zu bezeichnen.
Es scheint darum zu gehen, bürgerliche Schichten, die sich tendenziell ökonomisch bedroht fühlen – mittelständische Betriebe, Handwerk, Facharbeiterschaft –, von den Ursachen ihrer Probleme abzulenken. Und zwar durch das populistische Agieren auf anderen Schauplätzen, sei es die Zuwanderung oder, aktuell, der Umgang der Regierenden mit der Corona-Pandemie. Und damit begibt sich die Lindner-FDP – ähnlich wie Teile der CDU – in eine unverantwortliche Nähe zur Neuen Rechten.
Schon im März steckte Christian Lindner das Gelände ab, auf dem er die FDP in Sachen Corona zu positionieren gedachte: „Wir wollen keinen autoritären Staat, in dem eine Regierung ohne parlamentarische Kontrolle Freiheitseinschränkungen befehlen kann“, sagte er damals dem Kölner Stadtanzeiger. Das klingt wie ein verfrühtes Startsignal für diejenigen, die jetzt die durchaus berechtigten Sorgen über die Einschränkung von Freiheitsrechten nutzen, um Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten zu lenken.
Ob bei den „Hygienedemos“, dem seltsamen Parteigebilde „Widerstand 2020“ oder bei Teilen der AfD: Immer geht es ja darum, im Ton des Freiheitspathos die offizielle Corona-Politik nicht nur zu kritisieren, sondern sie zum Ausdruck eines diktatorischen Regimes zu stilisieren, mit dem Angela Merkel wie schon in der „Flüchtlingskrise“ den „Willen des Volkes“ missachte. Den Protagonisten dieser schwarz-weiß gemalten Dystopien dürfte es sehr gut in den Kram passen, wenn der Vorsitzende einer etablierten Partei über einen „autoritären Staat“ spekuliert, der „Freiheitseinschränkungen befehlen kann“.
Dass damit eine fundierte Kritik an der Corona-Politik umso schwieriger wird, da sie gleich mit unter den Verdacht der Verschwörungstheorie gestellt werden kann, scheint dem FDP-Vorsitzenden egal zu sein. Fast so egal wie dem Star der „Hygienedemos“, Bodo Schiffmann, der beim Umgang mit Pandemie-Fakten seiner offiziellen Berufsbezeichnung als Leiter einer „Schwindelambulanz“ alle Ehre macht.
Am Ende unterscheidet sich Christian Lindner von Akteuren wie Schiffmann praktisch nur dadurch, dass er Merkel und Co. wenigstens noch Verantwortung zuspricht, statt sie zu Marionetten düsterer, heimlich die Welt regierender Mächte zu erklären. Natürlich geht Christian Lindner nicht mit, wenn Bill Gates als Verursacher allen Übels zur Hassfigur wird. Den Microsoft-Gründer würde ein FDP-Vorsitzender kaum kritisieren – selbst dort, wo dessen fragwürdige Rolle als Großspender im internationalen Gesundheitswesen durchaus seriös zu hinterfragen wäre. Aber der FDP-Chef wäre dumm, wenn er nicht wüsste, welche Stichworte er dem rechten Rand liefert.
Es stimmt: Lindner hat sich von seinem Parteifreund, dem Thüringer Landeschef Thomas Kemmerich, distanziert, als dieser an einer der skurrilen Corona-Demonstrationen in Gera teilnahm. Aber das hat mehr mit Form zu tun als mit Inhalt: Der seriöse Anstrich soll auf keinen Fall Risse bekommen. Das ist – ohne inhaltliche Positionen leichtfertig gleichzusetzen – sehr wohl vergleichbar mit der Methode der AfD: Wo Berührungspunkte mit allzu radikal vertretenen Positionen erkennbar werden, wirft man notfalls sogar jemanden aus der Partei. Siehe Andreas Kalbitz. An inhaltlichen Übereinstimmungen ändert das nichts.
Alles zusammengenommen, zeichnet sich hier eine Koalition ab, die jede Menge Sprengstoff für die Zukunft enthält: Der Neoliberalismus eines Friedrich Merz oder der „Werteunion“, der die unerwünschte soziale Absicherung durch das Placebo der Geborgenheit in nationaler Leitkultur ersetzen möchte, könnte sich mit dem marktradikalen Populismus der Lindner-FDP verbünden. Und gemeinsam mit einer AfD, die sich irgendwann tatsächlich hinter einer bürgerlichen Fassade zu verstecken wüsste, ergäbe sich ein durchaus explosives Gemisch. Die Verantwortung dafür trüge auch Christian Lindner – die besseren Traditionen der FDP sollten den Blick darauf nicht verstellen.
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