Die Legende von Gerd und Angela

Regieren Dass Schröder so mutig und Merkel so bescheiden ist, klingt so schön eingängig. Es gibt nur einen Makel: Es ist falsch
Ausgabe 52/2014
Performancekünstler: die CDU-Generalsekretärin und der Bundeskanzler 1999 in Berlin
Performancekünstler: die CDU-Generalsekretärin und der Bundeskanzler 1999 in Berlin

Bild: Dieter Bauer/Imago

Wenn es darum ging, einem Politiker Mut zu bescheinigen, dann war Gerhard Schröder schon immer ganz weit vorn. Vorausgesetzt, es handelte sich bei dem Belobigten um ihn selbst. Seine wohl wichtigste Rede im Deutschen Bundestag überschrieb der damalige Bundeskanzler mit den Worten: „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“. Das war am Freitag, dem 14. März 2003, und Schröder stellte sich mit dem Doppelmotto das Spitzenzeugnis für die zwei wohl wichtigsten Entscheidungen seiner Kanzlerschaft aus: zum einen für das Nein zum völkerrechtswidrig herbeigelogenen Angriff der US-Amerikaner und ihrer „willigen“ Verbündeten auf den Irak; und zum anderen für den Start der Agenda 2010, mit der Rot-Grün zum allerdings äußerst willigen Vollstrecker der herrschenden neoliberalen Lehre wurde.

Wenn Angela Merkel jemandem Mut bescheinigt, dann am ehesten den DDR-Bürgern, die geholfen haben, die Mauer zum Einsturz zu bringen. Zu denen hat sie nicht gehört, aber selbst wenn: Sich selber mutig zu nennen, fiele der Nachfolgerin von Gerhard Schröder nicht ein. Ihre vielleicht folgenreichste Regierungserklärung im Deutschen Bundestag krönte Merkel nicht etwa mit einer „Mut zu …“-Parole, sondern mit dem staubtrockenen Satz „Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen.“ Das war am Donnerstag, dem 9. Juni 2011, und die Kanzlerin redete, als ginge es um eine Raststättenverordnung und nicht um ihre 180-Grad-Wende vom Atomkraft-Fan zur Mutter des Ausstiegs. Das dramatischste Wort in der Rede war das Wort „dramatisch“, mit dem sie die Ereignisse drei Monate zuvor in Fukushima beschrieb, die größte Atomkatastrophe seit Tschernobyl. Von „Mut zur Veränderung“ war nichts zu hören.

Wer die beiden Auftritte (und viele andere des Ex-Kanzlers und der Kanzlerin) noch einmal vergleicht, könnte sich geradezu eingeladen fühlen, den gängigen Zuschreibungen zu folgen:

Da ist auf der einen Seite der selbstbewusste Selfmademan, treuer Diener seines Testosterons, allemal unbeeindruckt von der Stimmung im Volk oder gar in der eigenen Partei, voller guten Mutes und allzeit bereit, zu tun, was „getan werden muss“. Und wenn es ihn – die Massen verstehen’s halt nicht – die Kanzlerschaft kostet. Mutig eben! Je länger Schröders Abgang zurückliegt, desto mehr scheint dieses Bild sich festzusetzen. Als er in diesem Jahr 70 wurde, soll Sigmar Gabriel ihn den „Mut-Mann“ genannt haben.

Schon im Wahlkampf 2013 brachte der Spiegel auf den Punkt, was in weiten politischen Kreisen offenbar als mutig verstanden wird: den Leuten einzureden, man mache etwas anderes als neoliberale Politik: „Die große, erfolgreiche Illusion des 98er-Wahlkampfs bestand darin, dass Lafontaine und Schröder den Wählern einredeten, mit ihnen bekämen sie beides auf einmal: soziale Gerechtigkeit und Innovation, Tradition und Moderne. Steinbrück und Gabriel hätten das Spiel wiederholen können.“ Dumm nur, so der Hamburger Redaktionszyniker weiter, „dass es keinen Müntefering mehr gibt, der ihn (den Kandidaten) vor den Erwartungen der Funktionäre schützt“. Es verwundert nicht, dass in keiner einzigen der periodisch wiederkehrenden Schröder-Elogen seine Flucht vor den Agenda-Kritikern in die Neuwahl (2005) als Feigheit oder zumindest als Zeichen der Schwäche erscheint, sondern immer als konsequente Reaktion auf die bösen Gegner in der eigenen Partei.

Ohr am Murmeln des Volkes

Dieser Heldenlegende steht, auf der anderen Seite, die bescheidene Angela Merkel gegenüber, die – zwar unter freundlicher Missachtung etwaiger Gegenstimmen in der eigenen Partei – das Ohr immer am Murmeln des Volkes hat und in persönlicher Bescheidenheit und Demut tut, was die Mehrheit womöglich will. Die einen nennen das opportunistisch, die anderen klug und weise, die dritten sagen, es sei beides. Aber mutig nennt es niemand.

Wenn in den Mainstream-Medien Merkel mal mit Mut in Verbindung gebracht wird, dann höchstens in Zusammenhang mit genau jenem Moment, als sie Schröder auf der neoliberalen Hauptstraße noch rechts zu überholen versuchte: dem Wahlkampf 2005. Damals warb Merkel mit einem marktradikalen Programm um Wählerstimmen, für das bis heute die Namen Friedrich Merz und Paul Kirchhof stehen – mit dem bekannten Ergebnis, dass sie den bequemen Vorsprung in den Umfragen verspielte und das Ziel nur mit hauchdünnem Vorsprung vor Schröders SPD erreichte.

Von da an versteckte Merkel ihr bis heute gültiges neoliberales Programm (keine Steuererhöhungen für Vermögende und Spitzenverdiener, Austerität als einziges Mittel gegen die Euro-Krise et cetera) hinter einer Rhetorik aus sozialstaatlich eingefärbter Watte und ein paar unschädlichen Zugeständnissen an die SPD. Und wieder zeigte der mediale Mainstream, was er für mutig hält: jene Periode, als sich die CDU-Vorsitzende ganz offen den herrschenden Interessen und ihren Dienern in der Wissenschaft unterworfen hatte. Cora Stephan, rechtsgewendete Ex-Linke aus der Frankfurter Sponti-Szene und Autorin der Welt, bekannte 2011: „Ja, auch ich habe Angela Merkel gewählt“, schon deshalb, weil sie genug gehabt habe von der „verlogenen Romantik der sozialen Wärme“. Aber: „Dann war sie Kanzlerin. (…) Wo waren Mut und Klarheit geblieben, der Geist und der Wille, neue Pfade einzuschlagen?“

Die Geschichte vom mutigen Gerd und der bescheidenen Angie ist so schön einfach, dass sie wohl nicht mehr auszurotten sein wird. Nur der Wirklichkeit entspricht sie nicht. Oder allenfalls dann, wenn man öffentliche Performance“ mit Politik verwechselt, männliche Rudelführer-Attitüden mit mutiger Politik oder weibliche Bescheidenheit im Ton mit mutlosem Verwaltungshandeln.

Was bei all dem untergeht, das ist eine entscheidende Eigenschaft der Mutigen: die Bereitschaft, demjenigen, der Macht hat, die Gefolgschaft zu verweigern – unter Inkaufnahme des Risikos, dafür Schaden zu erleiden. Gerhard Schröder und Angela Merkel haben eher die Gemeinsamkeit, das Gegenteil zu tun: Nicht der Mut, gegen die politisch und medial organisierte Macht der ökonomischen Eliten zu handeln, zeichnet sie aus; nicht die Bereitschaft, gegen deren Interessen das Primat der Politik und die Idee des sozialen Ausgleichs zu verteidigen. Im Gegenteil. Erstaunlich nur, dass ausgerechnet diejenigen Momente, in denen beide die Anpassung an die Vorherrschaft des Neoliberalismus auf die Spitze trieben, als ihre mutigsten gelten. Besser wäre es vielleicht, auf den Volksmund zu hören: „Wein, Geld und Gut verkehrt der Weisen Mut.“

Das führt unweigerlich zu der allgemeineren Frage nach Mut als politischer Kategorie. Löst man sich von der absurden Umdeutung wirtschaftshöriger Interessenpolitik in Mut, dann bleibt nur die Empfehlung, mit dem Begriff sehr vorsichtig umzugehen.

Zu erinnern wäre daran, dass Mut nicht ausgerechnet dort seinen ersten Wohnsitz hat, wo die Macht residiert. Nicht, weil (demokratisch gewährte) Macht etwas Böses wäre und ihr Inhaber automatisch ein Feigling. Sondern weil eigene Macht selbstverständlich vor der Rache der Mächtig(er)en bis zu einem gewissen Grade schützt. Sicher, auch ein wirklich mutiger Politiker kann sein Amt verlieren. Aber das geht in der Regel nicht an die persönliche Existenz.

Wir sollten den Ausdruck Mut also für jene reservieren, die wirklich etwas riskieren – meistens nicht mit Macht, sondern gegen sie. Mutig ist nicht, wer gegen jugendliche Gewalttäter nach mehr Knast ruft, wohl wissend, dass das nichts löst. Mutig ist, wer sich einem Schläger entgegenstellt wie jüngst die junge Tuğçe Albayrak, die dafür mit dem Leben bezahlt hat. Mutig ist nicht, wer so tut, als seien Kontrollen und Sanktionen gegen Arbeitslose ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit.

Der Herde hinterher

Mutig ist, wer sich gegen solche Schikane wehrt wie die „Hartz-IV-Rebellin“ Inge Hannemann, die dafür ihren Job in der Arbeitsagentur riskierte. Mutig ist nicht, wer Banken mit Milliarden füttert. Mutig ist, wer vor einer Bank zivilen Ungehorsam wagt und dafür Prügel oder einen Prozess riskiert. Mutig ist nicht der Abgeordnete, der der neoliberalen Herde folgt und dafür zu Hause beschimpft wird, aber den nächsten Listenplatz längst in der Tasche hat. Mutig ist allenfalls derjenige, der widerspricht und damit sein Mandat riskiert, weil die Partei ihn abstrafen wird. Von Menschen, die sich in Diktaturen unter ungleich größeren Risiken wehren, ganz zu schweigen. Wenn es also Mut gibt im politischen Raum, dann dort, wo er auch Zivilcourage heißt.

Man tritt regierenden Politikerinnen und Politikern nicht zu nahe, wenn man feststellt: Sie mögen klug sein oder nicht, auch fleißig, konsequent, ja manchmal sogar waghalsig. Aber der Mut ist woanders zu Hause.

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