Die Logik der Aufklärung

BND-Skandal Auch Geheimdienste haben rechtsstaatliche Grundsätze zu befolgen. Das potenzielle Sicherheitsrisiko muss uns die Freiheit wert sein
Ausgabe 20/2015
Verzichtbar? Die BND-Zentrale in Berlin
Verzichtbar? Die BND-Zentrale in Berlin

Foto: imago/IPON

Wer hat wen in wessen Auftrag elektronisch bespitzelt? Wer hat davon gewusst? Und: Kann der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der sonst als treuer Junior auf seinem 25-Prozent-Höckerchen neben Angela Merkel sitzt, die Kanzlerin ein bisschen ärgern? Das sind so die Fragen, die das Land seit einiger Zeit beschäftigen.

Das ist ja alles wichtig. Aufklärung im Konkreten ist auch in der jüngsten BND-Affäre dringend vonnöten. Und wenn der deutschen Regierungschefin schlüssig nachzuweisen wäre, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hat, dann hätte selbst Gabriels Spielchen wenigstens irgendeinen Sinn gehabt. Aber es gibt auch ein grundsätzliches Problem: Die wuchernde Fülle der Einzelinformationen macht es schwer, nach den gemeinsamen Wurzeln all der Affären zu suchen oder sie gar auszugraben.

Selbst die Linkspartei scheint mit den jeweils jüngsten Informationen so beschäftigt, dass sie vergisst, einen einfachen Satz aus ihrem Programm zu zitieren: „Wir wollen die Geheimdienste abschaffen.“ Es darf zwar bezweifelt werden, ob eine noch so freiheitliche Sicherheitspolitik ganz auf geheimdienstliche Elemente verzichten kann. Aber die Grundfrage ist berechtigt: Was wäre zu folgern aus der Tatsache, dass die Dienste sich längst zu Agenturen der digitalen Totalüberwachung entwickelt haben? Was tun mit dem Dilemma „zwischen der unerlässlichen Heimlichkeit geheimdienstlicher Arbeit und der Unheimlichkeit eines Geheimdiensts in einer demokratischen Gesellschaft“, wie es der ehemalige Richter und Abgeordnete für die Linkspartei, Wolfgang Nešković, hier im Freitag genannt hat?

Sicher könnte nicht schaden, was vor allem Linke und Grüne jetzt fordern: mehr Kompetenzen und bessere Ausstattung für das parlamentarische Kontrollgremium, genauere gesetzliche Definitionen für die Auskunftspflichten der Dienste, Entlassung der politisch Verantwortlichen. Aber ob das reicht, ist äußerst zweifelhaft. Wir brauchen den Neuaufbau einer Sicherheitsarchitektur, die den Schutz von Bürgerrechten von vornherein in ihre Arbeit integriert. Derzeit sind unsere Geheimdienste jedenfalls nicht zu kontrollieren.

Es geht nicht allein um diese oder jene „Selektoren“. Es handelt sich darum, dass unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terror, angetrieben durch früher ungeahnte technische Möglichkeiten, eine Logik des flächendeckenden Verdachts die Oberhand gewonnen hat. Sie ist es, die die Spähmaschinen von NSA über GCHQ bis zum BND heute antreibt. Kein Telefonat, keine E-Mail, keine Internet-Recherche darf verborgen bleiben. Denn in jedem Gespräch, jedem Schreiben, jedem Online-Zugriff kann ja theoretisch der Hinweis auf einen Anschlag stecken. Diese Totalkontrolle, für die ein Dienst wie die Stasi einst viele, viele offizielle und inoffizielle Mitarbeiter brauchte, funktioniert heute als weitgehend automatisierter und für die Betroffenen erst recht unmerklicher Vorgang.

Wer daran etwas ändern will, sollte sich auf den Zweck von Geheimdiensten besinnen. Wenn sie überhaupt einen haben, dann den, Gefahren von innen und von außen aufzuspüren, allerdings – vorausgesetzt, wir bleiben beim Anspruch einer freiheitlichen Demokratie – mit Rücksicht auf die Rechte des Einzelnen.

Die erste neue Regel müsste deshalb lauten: Was die Freiheit von Bürgerinnen und Bürgern einschränkt – und das Verfolgen unserer Kommunikation tut dies allemal –, darf nur dann geschehen, wenn gegen diese Person ein begründeter Verdacht besteht. Das gilt für das Strafverfahren – deshalb ist ja die Vorratsdatenspeicherung ein Angriff auf den Rechtsstaat –, es müsste aber auch für die Arbeit geheimer Dienste gelten. Bevor Überwachung oder Kontrolle greifen, hätte sich geheimdienstliche Arbeit in der Demokratie durch öffentlich zugängliches Material mit Informationen aus dem Aus- und Inland zu versorgen (und nicht durch V-Leute, die unter den Augen des Verfassungsschutzes fröhlich Straftaten begehen, aber vom Terror der Rechtsextremisten angeblich keine Ahnung haben).

Eines ist klar: Solche Dienste, die einer demokratischen Gesellschaft angemessen wären, würden womöglich einmal einen Anschlag nicht verhindern, dem durch Totalüberwachung vorzubeugen gewesen wäre. Man hat manchmal das Gefühl, dass viele Geheimdienstkritiker die Grundsatzdebatte auch deshalb nicht führen möchten. Womöglich fürchten sie sich davor, laut und deutlich zu sagen: Eine Gesellschaft, die sich auf die Verteidigung der Bürgerfreiheit verständigt, muss sich zugleich darüber im Klaren sein, dass sie bestimmte Risiken für die Sicherheit in Kauf nimmt.

Was sie allerdings dafür bekäme, das wäre diese Risiken wert. Es wäre jene andere Sicherheit, zu wissen, dass man nicht so leicht unter die falschen „Selektoren“ und damit in unbegründeten Verdacht geraten kann. Wohl niemand hat je erforscht, wie viele Unschuldige die Totalüberwachung schon vor Gericht oder gar – siehe Drohnenkrieg – ums Leben gebracht hat, ohne jede Möglichkeit der Verteidigung. Es ist also nicht einmal ausgemacht, ob die Welt insgesamt sicherer ist durch den Spähwahn der modernen Dienste. Freier jedenfalls ist sie nicht, im Gegenteil. Es wäre schön, wenn das endlich zum Thema unserer politischen Debatte würde.

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