Vielleicht hätte Andrea Nahles Klartext reden sollen. Sie hätte dann in etwa dies sagen müssen: Die deutsche Jugend ist dumm, kurzsichtig und frei von Ehrgeiz. Anders jedenfalls lässt sich die Idee der Arbeitsministerin, den Mindestlohn erst von einer bestimmten Altersgrenze an gelten zu lassen, nicht deuten. Und die Begründung, die jetzt in großkoalitionärem Gleichklang geliefert wird, auch nicht. Die Debatte ist beispielhaft dafür, wie selbst ein prinzipiell begrüßenswertes Instrument maßvoller Umverteilung in den Strudel der marktliberalen Ideologie gerät.
Zur Begründung für die Altersgrenze von 18 Jahren heißt es: Wer noch keine Ausbildung hat, könnte sich sonst für den Aushilfsjob statt fürs Lernen entscheiden. Wenn einer 1.500 Euro im Monat mit Geschirr spülen verdienen kann, warum sollte er dann für 500 Euro Koch lernen? So einleuchtend das auf den ersten Blick erscheinen mag: Es ist eine mutwillige und missbräuchliche Verdrehung der Wirklichkeit. Mehr als die 500 Euro, die ein Koch in etwa als Ausbildungsvergütung bekommt, kann er auch jetzt schon verdienen, wenn er irgendwo jobt. Dennoch entscheiden sich, darauf weist der Deutsche Gewerkschaftsbund mit Recht hin, fast 100 Prozent der Jugendlichen für Berufsausbildung oder Studium. Und die wenigen, die das nicht tun, entstammen mehrheitlich Familien, die froh sein können, wenn sie wenigstens den Mindestlohn verdienen.
Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat, als er seinen Wunsch nach Ausnahmen vom Mindestlohn für Rentner begrub, gesagt: „Rentner wollen zu Recht keine altersbezogene Unterscheidung.“ Warum, um Himmels willen, soll dieses Argument der Gleichbehandlung nicht auch für junge Leute gelten? Oder für Beschäftigte, die aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen und die Seehofer gern ebenfalls mit Ausschluss vom Mindestlohn bestrafen würde?
Vorauseilende Anpassung
Die Idee, dass auch die Jugendlichen lieber das tun, was sofort mehr Kohle bringt, als sich um ihre Zukunft zu kümmern, hat mit dem wirklichen Leben also nichts zu tun. Sie entstammt einer ideologischen Verblendung, die sich nichts anderes vorstellen kann als die Gier nach schnellem Geld. Genau hier liegt das Problem. Die Mindestlohn-Debatte wird nicht über das geführt, worum es gehen müsste: um die Idee, den Marktgesetzen staatliche Grenzen zu ziehen. Um eine Politik, die das Ziel eines würdigen und auskömmlichen Lebens für alle über ökonomische „Notwendigkeiten“ stellen würde, statt soziale Teilhabe den Maßen des Marktes anzupassen.
Das vielgerühmte Vorgehen von Andrea Nahles stellt in Wahrheit nichts anderes dar als eine taktisch geschickte Form dieser Anpassungspolitik. Sie hält sich mit Stolz zugute, ihr Vorhaben mit eben denjenigen vorher besprochen zu haben, die sie doch eigentlich in die Schranken zu weisen hätte: mit Zeitungsverlegern, Taxiunternehmern und vielen mehr. Dabei hat sie nichts anderes getan, als ihre Pläne vorauseilend am möglichen Widerstand aus der Wirtschaft zu messen. Es ist schön, wenn sie diesem Widerstand nicht überall nachgibt. Aber die konsequente Durchsetzung einer sozial orientierten Politik sähe schon der Form nach anders aus.
Die Einwände sind im Übrigen bekannt: Höhere Löhne sind ein Wettbewerbsnachteil und bedeuten die Vernichtung von Jobs. Dahinter steht nichts anderes als die Anerkennung der kapitalistischen Profitlogik als Naturgesetz. Beispiel Verlage: Die Zustellkosten haben, so der DGB, an den Kosten der Zeitungsproduktion einen Anteil von gerade 15 Prozent, wovon die Löhne der Zeitungsausträger wiederum nur einen Teil ausmachen. Dürfen wir hoffen, dass Andrea Nahles lacht, wenn ihr die Verleger erzählen, die Einführung des Mindestlohns würde das Ende der Pressefreiheit bedeuten? Hat sie ihnen mal gesagt, dass die Medienkrise mit niedrigen Trägerlöhnen etwa so gut zu bekämpfen ist wie der Alkoholismus mit einem höheren Flaschenpfand?
Ein Minimum an Gerechtigkeit
Ja, es wird für einige Unternehmen und Branchen nicht ganz einfach sein, den Beschäftigten dieses Mindestmaß einer Beteiligung am gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum zu gewähren. Einige werden Schwierigkeiten haben, die Mehrkosten aus ihren Gewinnen oder über höhere Preise zu erwirtschaften. Aber wenn das so ist: Müssen wir dann nicht fragen, was an einem System nicht stimmt, das zu einem Minimum an Verteilungsgerechtigkeit unfähig ist?
Das wäre eine der Fragen, die eine sozialdemokratische Partei zu stellen hätte. Sie hätte auch daran zu erinnern, dass ein Stundenlohn von 8,50 Euro – also keine 1.500 Euro im Monat bei Vollzeit – noch lange nicht das Maß einer angemessenen Bezahlung für gute Arbeit sein kann, sondern nicht mehr als eine minimale „Grundsicherung“. Die SPD beteiligt sich statt dessen an einem Spiel, das wir aus politischen Debatten leider nur allzu gut kennen: Eine Frage – Mindestlohn ab 18 Jahren? Ab 21 Jahren? Oder ab 25? – wird zur Übergröße aufgeblasen und von allen Seiten zum Streitthema inszeniert. Dass sie alle gemeinsam dabei sind, die eigentliche Absicht des ganzen Projekts Mindestlohn zum guten Teil ad absurdum zu führen, geht dabei unter. Erst recht, wenn sie sich dann feierlich geeinigt haben. Nein, es ist nicht die geldgierige Jugend, um die wir uns sorgen müssen.
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