Zwischenbilanz Dramatischer Profilverlust: Nach einem Jahr an der Regierung ähneln die Grünen und Ricarda Lang in ihrem Machtverständnis immer mehr der Union. Mit krassen Folgen für grüne Politik
Auf Distanz zum außerparlamentarischen Protest: Ricarda Lang
Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images
Sie sind nicht mehr leicht zu finden, die gallischen Dörfer des Widerstands im grünen Reich des Super-Pragmatismus. Am ehesten noch bei der Grünen Jugend, zum Beispiel im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg: „Wir sind krass beeindruckt von der Letzten Generation“, twitterte der Parteinachwuchs Anfang November, und das klingt nicht gerade nach Robert Habeck. Der grüne Starminister nimmt zwar das Wort „krass“ in seinen berufsjugendlichen Momenten selbst gern in den Mund. Aber Sympathiebekundungen für die radikaleren außerparlamentarischen Formen des Klimaschutzaktivismus werden von ihm so schnell nicht zu hören sein. Und das ist symptomatisch für den Zustand der Grünen nach bald einem Jahr als Regierungspartei.
Nicht ei
Nicht einmal Ricarda Lang ist „krass begeistert“ von den Leuten ihres Alters, die sich an Straßenkreuzungen festkleben oder mit Kartoffelbrei am Schutzglas von Kunstwerken für Aufregung sorgen – vor allem seit dem furchtbaren Unfalltod einer Berliner Radfahrerin am Tag einer Straßenblockade. Die 28-jährige Co-Vorsitzende der Grünen, selbst einst Sprecherin der Nachwuchsorganisation und bisher allenthalben als Linke etikettiert, hat sich vielmehr im mütterlichen Ton auf Selbstverständlichkeiten verlegt: „Wenn Protestaktionen dazu führen, dass die Sicherheit oder das Leben von Menschen gefährdet werden, ist das schlichtweg nicht akzeptabel.“ Als wüssten das die Leute von der „Letzten Generation“ nicht selbst. Als träfen sie nicht regelmäßig alle möglichen Vorkehrungen, um beispielsweise Rettungsgassen zu ermöglichen.Optimistisch Veranlagte hätten vielleicht von Ricarda Lang erwartet, dass sie zumindest eine Frage in den Raum stellt: ob solche Unfälle nicht eher mit den Zuständen im Straßenverkehr zu tun haben, gegen die die „Letzte Generation“ protestiert, als mit deren Blockadeaktionen. Stattdessen verlegte sich die Parteivorsitzende (und nicht nur sie) auf ein gewagtes rhetorisches Manöver: „Wenn ein Protest dazu führt, dass nicht mehr über die Sache, sondern nur über die Protestform geredet wird, erweist das dieser Sache einen Bärendienst.“Kuschen vor dem PublikumDas klingt auf den ersten Blick irgendwie logisch, spricht aber bei etwas näherer Betrachtung Bände über die Entwicklung der Grünen: Die Vorsitzende der Partei, die einst aus der Umweltbewegung entstand, distanziert sich vom außerparlamentarischen Protest, indem sie Ursache und Wirkung vertauscht. Dass über bescheidene Forderungen der „Letzten Generation“ wie Tempolimit und Neun-Euro-Ticket kaum noch geredet wird (unter anderem, weil die Grünen sich den Blockaden des Regierungspartners FDP beugen) – das ist nun wirklich nicht die Schuld der Protestierenden, sondern der Grund für ihre provokanten Aktionen. Und wenn am Ende nur über „Protestformen“ diskutiert wird, dann ist das eher der Delegitimierungsstrategie der Unionsparteien geschuldet als den dosierten und gewaltfreien Aktionen der Protestierenden selbst.Diese leicht durchschaubare Strategie zu nutzen, um sich selbst von den Protesten zu distanzieren – das ist nicht besonders grün, sondern vor allem opportunistisch. Da hilft es auch nichts, wenn Ricarda Lang besonders radikale Denunziationen wie die Rede von der angeblich drohenden „Klima-RAF“ zurückweist.Das Verhalten der Grünen-Chefin ist natürlich kein Zufall. Es steht vielmehr beispielhaft für die Strategie, der sich die Partei spätestens unter der Führung von Annalena Baerbock und Robert Habeck verschrieben hat: Mehrheits- und Regierungsfähigkeit geht über alles, im Zweifel auch über grüne Grundüberzeugungen. Und wenn die Kinder der bewegten Gründungsgeneration die gleiche Radikalität an den Tag legen wie einst ihre Mütter und Väter, kämpft das Partei-Establishment nicht etwa im Bündnis mit ihnen um die gesellschaftliche Hegemonie für eigentlich gemeinsame Forderungen oder wenigstens um bessere Kompromisse innerhalb der Regierung. Es kuscht stattdessen vorauseilend vor den Abwehrreflexen eines konservativ-bürgerlichen Publikums.Kurz zusammengefasst: Was einst bei der CDU wenig schmeichelhaft „Kanzlerpartei“ hieß – also die maximale Anpassung politischen Handelns an die Bedürfnisse und begrenzten Möglichkeiten der eigenen Regierungsmitglieder –, prägt heute den Umgang der Grünen mit der wiedererworbenen Regierungsmacht. Sie sind zur Vizekanzlerpartei geworden.Die Debatte über die „Letzte Generation“ ist der jüngste, aber keineswegs der einzige Beleg für diese Entwicklung. Ob Waffen für Saudi-Arabien, umstrittene Kohle-Deals mit Energiekonzernen oder ein Beschluss zum Streckbetrieb von Atomkraftwerken, der verdächtig gut zum wenig später gesprochenen „Machtwort“ von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) passte: Schon der Grünen-Parteitag im Oktober hatte überdeutlich gezeigt, dass das Regieren mehr über die Inhalte bestimmt als umgekehrt.An die Zeitenwende angepasstJetzt geht es nicht mehr nur darum, dass Koalitionen auch Kompromisse erfordern, also zwischen Wünschen und realen Möglichkeiten immer eine Diskrepanz besteht. Das ist das Normalste der Welt, und niemand sollte es den Grünen verdenken – zumal jetzt, da sie vor allem in der Energiekrise die Fehler der Merkel-Ära mit auszubaden haben. Aber ihr Selbstverständnis als Regierungspartei geht darüber inzwischen in einer Weise hinaus, die weder ihnen guttut noch dem demokratischen Streit: Wünsche werden schon vorauseilend den möglichen Kompromissen angepasst; jener utopische Überschuss, der doch die Distanz zwischen Ideal und Möglichkeit und damit die Qualität von Kompromissen erst messbar machen würde, wird als ideologieverdächtiger Ballast einem Pragmatismus geopfert, der in Wahrheit selbst zur Ideologie geworden ist.Im Januar dieses Jahres, es ist gerade zehn Monate her, veröffentlichte Ricarda Lang ihr offizielles Bewerbungsschreiben um einen der beiden Vorsitzposten bei den Grünen. Wenigstens in Andeutungen wies sie damals noch der Partei eine kritische Rolle gegenüber ihren eigenen Regierungsmitgliedern zu. Einerseits „wird der Parteivorstand eine Art Scharnier zwischen der Regierung und der Basis sein“, schrieb sie damals. „Er erklärt und kommuniziert das Regierungshandeln an die Mitglieder. Aber er trägt auch die Wünsche, Positionen, Anregungen und Ideen aus der Mitgliedschaft und unserer Bündnispartner*innen in das Kabinett.“Weder der Aufruf zur Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen fehlte in dem Bewerbungsschreiben noch die Forderung nach „Klarheit darüber, dass weder mögliche Kompromisse noch der Koalitionsvertrag grüne Positionen ersetzen“. Und auch in Langs Rede auf dem Wahlparteitag Ende Januar findet sich der deutliche Hinweis auf das „Spannungsverhältnis zwischen einer Partei, die viel verändern will, und der Realität einer Regierung“.Einen Parteitag später, im Oktober, klang die Vorsitzende vom einstmals linken Flügel etwas anders. Die „Wünsche“, die sie noch im Januar ins Kabinett tragen wollte, haben für sie offenbar erheblich an Wert verloren: „Wir machen Politik nicht für die Realität, die wir uns wünschen, sondern für die, die da ist.“Sicher, zwischen den beiden Parteitagen liegt der Beginn von Russlands völkerrechtswidrigem Überfall auf die Ukraine. Die von Kanzler Scholz daraufhin ausgerufene berühmt-berüchtigte Zeitenwende erfordert an vielen Stellen schnelles und von tatsächlichen Zwängen geprägtes Handeln, etwa bei der Suche nach schnellem Ersatz für russisches Gas. Aber gerade in derart stürmischen Zeiten würde es sehr helfen, den eigenen Kompass nicht zu vergessen.Ohne Zweifel haben die Grünen in der Regierung auch Erfolge erzielt, etwa jetzt beim Ausstieg aus der konzernfreundlichen Energiecharta oder beim Thema Übergewinnsteuer. Aber zwischen dem stets wiederholten Anspruch, unter Krisenbewältigung auch entschiedene Schritte zu einer krisenfesteren sozial-ökologischen Politik zu verstehen, und dem konkreten Regierungshandeln klafft doch eine erhebliche Lücke. Da ist zum Beispiel der Kotau vor der FDP beim Tankrabatt, und da ist Habecks schwerer Fehler, die ursprünglichen Pläne für eine sozial ungerechte und politisch fatale Gasumlage als „gerechtest mögliche“ Lösung zu verkaufen. Solche Vorgänge sprechen nicht für eine Partei, die ihren Realismus noch ausreichend an eigenen Idealen zu messen vermag. Vom Umgang mit der „Letzten Generation“ gar nicht zu reden.Das alles wäre vielleicht zu verkraften, hätten die selbstklebenden Aktivistinnen und Aktivisten nicht so furchtbar recht mit ihrem Hinweis, dass es bald zu spät ist für die viel beschworene Klimagerechtigkeit. Wenn der Bedarf an politischen Kräften, die notfalls unter Verzicht auf Regierungsämter gemeinsam mit sozialen Bewegungen um eine sozial-ökologische Transformation kämpfen, nicht so schmerzhaft auf der Hand liegen würde.Wie wäre es, wenn der grüne Vizekanzler Robert Habeck seine umfassende Schwiegermütter-Tauglichkeit mal ruhen ließe und an zentraler Stelle die Koalitionsfrage stellte – zum Beispiel verbunden mit der Forderung nach einer Vermögensabgabe und höheren Steuern auf Spitzeneinkommen zur Finanzierung von Krisenlasten? Oder bei der FDP-Monstranz namens Schuldenbremse, die die Ampel nur mit offensichtlichen Tricksereien formal einhält? Vielleicht würde er sich wundern, wie viele Schwiegermütter da auf seiner Seite wären.Das also ist das Problem mit den Grünen, das über die Grünen weit hinausreicht: Das deutsche Parteiensystem hat sich fast geschlossen darauf eingerichtet, in vorauseilender Anpassung an eine angeblich veränderungsunwillige Wählerschaft auf den Mut zur Radikalität zu verzichten.Das ist bei Union und FDP und teils auch bei der SPD sozusagen historisch-genetisch bedingt, sie alle haben ihre Wurzeln im Denken und Fühlen der fossilen Epoche, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die Anpassung der Grünen an den strukturkonservativen Mainstream dagegen schmerzt auch deshalb, weil ihre Geschichte ihnen eigentlich etwas anderes auferlegt hätte: die Pflicht, die Gesellschaft dort, wo Beharrungskräfte noch überwiegen, aufzurütteln und von fundamentaler Veränderung zu überzeugen. Der rebellierenden Jugend zu erklären, dass sie selbst schuld ist, wenn niemand auf sie hört, ist dagegen, um es mal so zu sagen: krass.
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