Krise? Was für eine Krise?

Union Warum ist das neoliberale Wahlprogramm von CDU und CSU für viele Menschen so reizvoll? Vielleicht, weil es die Hoffnung nährt, ohne Tribut durch die Klimakrise zu kommen
Ausgabe 25/2021

Im Wahlprogramm von CDU und CSU steht der Satz: „Wir werden nichts versprechen, was wir nicht einhalten können.“ Das klingt zunächst ein bisschen frech – wann sind schon alle Versprechungen eines Wahlprogramms eingelöst worden? Aber andererseits: Was wäre, wenn die Unionsparteien alles hielten, was sie auf 138 Seiten versprechen? Die Antwort: Das wäre viel schlimmer.

Die offensichtlichsten Kritikpunkte sind in den vergangenen Tagen vielfach genannt worden: Steuersenkungen am oberen, faktische Deckelung von Sozialleistungen am unteren Ende der Reichtumsskala („… die Lohnzusatzkosten auf einem stabilen Niveau von maximal 40 Prozent halten“); Förderung von „Altersvorsorge“ per Finanzmarkt statt Ausbau der gesetzlichen Rentenversicherung; Klimaschutz ohne wirksame regulatorische Eingriffe; Autobahnausbau und ausdrückliche Befürwortung „aller Antriebsformen“; Bekenntnis zur Luftfahrt als „preislich wettbewerbsfähigem Verkehrsträger“ und so weiter.

All das spricht den Notwendigkeiten eines sozial-ökologischen Umbaus Hohn. Und die Grünen dürfen sich fragen, warum sie diese Parteien noch für koalitionsfähig halten – während sie der Linken ununterbrochen erzählen, welche Programmpunkte zu streichen wären, bevor über Bündnisse überhaupt zu reden sei.

Was ist an diesem Unionsmanifest eines Neoliberalismus in Zeiten des Klimawandels für viele Menschen so reizvoll, dass CDU und CSU sogar mit Armin Laschet wieder beste Aussichten auf die Kanzlerschaft haben? Vielleicht dies: Das Programm gibt der großen Lebenslüge unserer Tage geradezu kongenial Ausdruck. Es nährt die verzweifelte Hoffnung, wir könnten ohne Abschied von geübten Routinen unserer Wirtschafts- und Lebensweise durch die Klimakrise kommen.

Mit anderen Worten: Das wirklich Unverantwortliche ist es, dass die Unionsparteien der Geschichte vom Klimaschutz als Attacke auf den „kleinen Mann“ und seine Frau Nahrung geben. Nicht ausdrücklich im Programm, hier beschränken sie sich auf den sedierenden, demobilisierenden Ton, mit dem schon in der Ära Merkel notwendige Reformen wegdiskutiert worden sind. Aber die Angriffe auf Klimaschützerinnen und -schützer, die den normalen Leuten erstens das Auto und zweitens den Mallorca-Urlaub wegnehmen wollten, sind integraler Bestandteil dieser Strategie. Dass die Erkenntnis notwendiger Veränderungen auch Ängste auslöst, ist normal und gerade denjenigen nicht vorzuwerfen, die sich Mallorca vom Munde absparen. Aber dass die größte Partei dieser Angst mit der Lüge vom „Weiter-so“ begegnet, allem Gerede vom „Modernisierungsjahrzehnt“ zum Trotz – das ist so bitter wie erwartbar.

Allerdings ist die politische Konkurrenz an diesem Skandal nicht ganz unbeteiligt. Gerade haben die Grünen ein Programm verabschiedet, das aus Furcht vor der ängstlich-defensiven Stimmung im Land auch beim Klimaschutz auf jeden Anschein von Radikalität verzichtet. Die große Transformation als Chance auszudefinieren, versuchen auch sie nur sehr begrenzt.

Dass CDU und CSU am bräsig verbrämten Neoliberalismus festhalten, ist traurig, aber nicht überraschend. Dass es bei der politischen Konkurrenz kein mutiges Aufbruchssignal gegen die Angst gibt, keine offensive Werbung für eine öko-soziale Transformation zum Nutzen aller – das ist vielleicht das noch schlimmere Signal dieses Wahlkampfs.

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