Lähmung und Perspektive

2019 Nur wenn die CDU Angela Merkel stürzt, besteht Hoffnung darauf, dass die SPD ihre großkoalitionäre Selbstvernichtung beendet
Ausgabe 01/2019
Im Habitus verschieden. In ihrer Politik beinahe identisch
Im Habitus verschieden. In ihrer Politik beinahe identisch

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Wenn es im neuen Jahr so weitergeht wie im alten, ist eines sicher: CDU und SPD, die mehr oder weniger ehemaligen Volksparteien, werden auf das fragwürdige Unterhaltungsprogramm „Richtungsstreit trifft Eitelkeit“ auch 2019 nicht verzichten.

Sowohl die Union, bei der die CSU bald wieder lauter mitmischen dürfte, als auch die Sozialdemokratie werden weiter um die Frage ringen, wie man in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft Mehrheiten gewinnt. Der Streit könnte noch heftiger werden – sowohl innerhalb der Noch-Koalitionsparteien als auch zwischen ihnen.

Vor Silvester gab es vor allem bei den Christdemokraten ein paar Unermüdliche, die die schöne Inszenierung des Neuaufbruchs mit Annegret Kramp-Karrenbauer an der Spitze durch hörbare Zwischenrufe störten. Die Sympathisanten des unterlegenen Vorsitz-Kandidaten Friedrich Merz zielen nach ihrer Niederlage nun offenbar direkt auf Merkel. Vor allem Günther Oettinger konnte nicht an sich halten und fantasierte Merz per Interview ins Kanzleramt. Die neue Parteichefin ließ daraufhin wissen, dass sie für ihren Rivalen nicht mal ein Plätzchen als Minister sieht. Aber das letzte Wort dürfte das nicht gewesen sein.

Eine Frage wird bei all diesen Schaukämpfen – und leider auch in der Berichterstattung – allzu oft ignoriert: Worin bestehen eigentlich die angeblich so einschneidenden Differenzen zwischen den Merz-Freunden und dem „AKK-Lager“? Sicher gibt es in Stil und Habitus große Unterschiede zwischen der volkstümlich wirkenden Frau aus dem Saarland und dem Sauerländer, der vor Arroganz kaum laufen kann. Und womöglich glauben die Protagonistinnen und Protagonisten sogar selbst, sie stünden für unterschiedliche Richtungen. Aber hält das einer inhaltlichen Betrachtung stand? Eher nicht.

Es stimmt durchaus, dass Merz und Kramp-Karrenbauer hie und da unterschiedliche Akzente setzen: Die neue Vorsitzende verbindet ihren dezidierten Konservatismus in gesellschaftlichen Fragen, zum Beispiel bezüglich Migration und der Ehe für alle, mit „linkeren“ Elementen bei sozialen Themen wie der Rente oder bei der Frauenquote. Der unterlegene Konkurrent dagegen mischt seinem radikaleren Neoliberalismus einen Nationalkonservatismus bei, der die vom globalisierten Kapitalismus und vom beschnittenen Sozialstaat „Abgehängten“ auf die emotionale Geborgenheit in einem diffusen Gefühl von Heimat verweist.

Akzente, wie gesagt. Aber die Dauer-Erzählung von einer „sozialdemokratisierten“ CDU, die erst unter Merkel und dann unter Kramp-Karrenbauer für eine Partnerschaft mit der SPD geeignet sei, wird durch Wiederholung nicht wahrer. Wenn es um Verteilungsfragen geht, um die Eindämmung von Kapitalinteressen und eine entschiedene Gerechtigkeitspolitik, fällt die Union als Partnerin für eine Partei, die dem Begriff „sozialdemokratisch“ wieder erkennbaren Inhalt geben will, aus.

Ja, die Parität bei den Krankenversicherungsbeiträgen ist wiederhergestellt. Ja, es gibt den – in der Höhe unzureichenden – Mindestlohn. Ja, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde manches getan – was Merkel umso leichter fiel, als es auch im Interesse der Unternehmen liegt. Ja, bei den europäischen Abgas-Grenzwerten für Autos kam eine strengere Regelung heraus, als die Union allein sie zugelassen hätte. Aber was ist mit der Fiskalpolitik, wo jede stärkere Belastung hoher Einkommen und Vermögen weiter tabu ist? Was mit Hartz IV? Wo ist die Bürgerversicherung? Wo das rigorose Vorgehen gegen die Abgas-Betrüger in den Autokonzernen? Hat jemand etwas vom „neuen Aufbruch für Europa“ gehört, den der Koalitionsvertrag versprach?

Wer die Große Koalition aus dieser Perspektive betrachtet, kann nur zu dem Schluss kommen, dass es reicht – egal, welches „Lager“ sich in der CDU am Ende durchsetzt. Aber ob es tatsächlich zum Bruch kommt, ist zum Jahresauftakt 2019 vollkommen offen. Sollte Angela Merkel die Angriffe aus der eigenen Partei im Amt überstehen, wird das Bündnis wohl fortgesetzt. Die SPD wird weiter täglich behaupten, die Regierung mache in Wahrheit „sozialdemokratische“ Politik, und es werden ihr weiterhin alle glauben, die nicht einmal das Programm der Sozialdemokraten für die Bundestagswahl 2017 gelesen haben.

Oder aber die Beteiligten nehmen ihre eigenen Profilierungsversprechen ernst. Das würde diese Koalition, bestünde sie denn fort, noch stärker lähmen und die Spielräume für mögliche Kompromisse noch kleiner machen – zumindest für die SPD eine vernichtende Perspektive. Bei der CDU dürften diejenigen lauter werden, die an den vielgepriesenen Neuanfang unter einer Kanzlerin Merkel nicht glauben.

Nicht auszuschließen ist vor diesem Hintergrund ein paradoxes Szenario: Die SPD wird nur dann zur Vernunft kommen und die großkoalitionäre Selbstvernichtung beenden, wenn die CDU ihr dabei hilft, indem sie Merkel stürzt. Dann bestünde eine gewisse Hoffnung, dass die Sozialdemokraten mutig Neuwahlen riskieren, statt vor lauter Todessehnsucht die nächste GroKo-Kanzlerin Annegret Kramp-Karrenbauer ins Amt zu wählen. Aber selbst darauf sollte man sich nicht verlassen.

Stephan Hebel veröffentlicht am 11. 1. das Buch Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft

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