Für Malu Dreyer steht das Wunschergebnis schon fest. Sind die neue Vorsitzende, der neue Vorsitzende oder die neuen Vorsitzenden gefunden, sollen alle sagen können: „Die SPD ist quicklebendig.“ Nehmen wir zu Dreyers Gunsten an, dass sie nicht glaubt, ihre Partei ließe sich allein durch Personalentscheidungen wieder zum Leben erwecken. Sondern dass sie im Rahmen der Vorsitzendenkür auf eine anspruchsvolle und fruchtbare Auseinandersetzung über die Ausrichtung der Sozialdemokratie hofft.
Das jetzt beschlossene Verfahren der Personalfindung bietet durchaus Gelegenheit dazu: Die Regionalkonferenzen und Mitgliederabstimmungen, die es vorsieht, haben immerhin das Zeug zur Selbstverständigung, und zwar im Dialog zwischen Basis, Funktionärsebene und (alter) Führung. Wenn das gelingen soll, werden die Kandidaten allerdings mehr Mut aufbringen müssen als all die schnell zerschlissenen Parteichefs vor ihnen. Die Partei hat den Versuch, die Idee der Sozialdemokratie unter den Bedingungen der Gegenwart neu zu definieren, fast schon zu lange unterlassen. Zu lange hat der mächtige Flügel um Olaf Scholz geglaubt, eine Gesellschaft in Bewegung mit ein paar punktuellen Erfolgen in einer Koalition des weitgehenden Stillstands abspeisen zu können. Mut gehört dazu, sich über Ideen, gerne auch Visionen jenseits des großkoalitionären Denkkorsetts zu verständigen. Diese Ideen müssten dann auch mit Ansagen zu einer möglichen Machtperspektive verbunden sein.
Wo also könnte der Platz einer modernisierten Sozialdemokratie heute liegen? An der Seite des grünen, metropolitanen Kosmopolitismus? Oder eher da, wo sich auch bei Linken die Idee einer neuen Sozialpolitik mit irritierend nationalen Tönen zu Migration und Europa mischt? Beides nicht. Diese Rollen sind vergeben, und besonders attraktiv sind sie auch nicht. Wie wäre es stattdessen, wenn die SPD sich an die Auflösung des angeblichen Widerspruchs zwischen (nationaler) Sozialpolitik und internationalistischer Weltoffenheit wagte?
Die Zahl der Menschen, die sowohl kosmopolitische Einstellungen haben als auch einen Bedarf an neuen Systemen der sozialen Sicherung, wird ja nicht geringer – siehe nur die atypisch Beschäftigten der Internetbranche. Sie zu gewinnen, muss andererseits niemanden hindern am Versuch, auch dem Handwerker oder Metallarbeiter durch gute Sozialpolitik den „Angst-Rohstoff“ (Oskar Negt) zu entziehen, der die extreme Rechte ernährt. Diese grobe Verortung müsste natürlich mit konkretem Inhalt geführt werden. Gelingt das, könnte sie auch den Platz der SPD in einer künftigen Mitte-links-Regierung beschreiben. Sowohl dem sozial blinden oder kurzsichtigen, kosmopolitischen Liberalismus als auch dem Rückzug ins National-Soziale eine attraktive Idee von sozial-ökologischer Modernisierung gegenüberzustellen – das wäre mal eine Politik, die das Wort „Mitte“ verdient.
Es wäre übrigens die realistischste Position in einer rot-grün-roten oder grün-rot-roten Machtoption. Radikal wäre es nur gemessen am kleinmütigen Wursteln der SPD in der GroKo. Und unrealistisch ist in Wahrheit sowohl die Geschichte vom automatischen Glücksbringer Globalisierung als auch die Legende von der segensreichen Flucht ins Nationale.
Es kann nicht sein, dass es in der SPD keine führungsfähigen Persönlichkeiten gibt, die diesen neuen Realismus vertreten könnten. Sie mögen sich bitte melden.
Kommentare 4
"Diese grobe Verortung müsste natürlich mit konkretem Inhalt geführt werden."
Und genau da liegt der Hund begraben: Diese konkreten Inhalte müssen weitaus radikaler sein, als der Autor es sich vorstellen will (oder kann). Kosmopolitische, nicht neoliberale Strukturen, entsprechende "weltumspannende" Systeme der sozialen Sicherung sind nur denkbar im Rahmen einer Abkehr von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Es kann kein Wachstum geben, das weltweit soziale Standards, wie sie in Mitteleuropa existieren, realisieren kann. Der Kapitalismus zerstört jetzt schon die Lebensgrundlagen künftiger Generationen. Der hiesige "Wohlstand" beruht auf der ungerechten Ausbeutung der Ressourcen, deren gerechte Verteilung einem kapitalistischen Wirtschaften diametral entgegensteht. Wir nehmen uns ein Vielfaches dessen, was uns zusteht.
Es braucht den Entwurf einer Gesellschaft, der den Menschen ermöglicht, jenseits des bestehenden Konsumismus eine zufriedenstellende Existenz für alle zu sehen, und zwar, na klar, weltweit.
Wo sollen denn da wohl die Kompetenzen einer SPD liegen? Kann sich jemand vorstellen, dass die SPD das Godesberger Programm, also ihren abschließenden Friedensschluss mit dem Kapitalismus, in die Tonne haut und ein derart radikales neues Programm entwickelt?
" Sowohl dem sozial blinden oder kurzsichtigen, kosmopolitischen Liberalismus als auch dem Rückzug ins National-Soziale eine attraktive Idee von sozial-ökologischer Modernisierung gegenüberzustellen – das wäre mal eine Politik, die das Wort „Mitte“ verdient."
Welch hehre Worte! Und alles derzeit Wichtige - bis auf die eigentlich unvermeidbare "Digitalisierung" kommt vor: sozial, ökologisch, modern, Mitte.
Und das Schöne: Alle Sozialdemokraten*innen könnten dies vollumfänglich unterschreiben, von Kevin Kühnert über Johannes Kahrs, Robert Habeck, Katja Kipping bis hin zu AKK und Markus Söder!
Ihre Vorstellung von Wachstum ist - mit Verlaub - zu kleingeistig! Die Krux ist nicht das Wachstum sondern der Profit. Wachstum bedeutet nur, dass Menschen mehr bewirken, wie auch immer, z.B. durch Mehrarbeit, höhere Effizienz, größere Zahl usw.. Daran ist an sich nichts verkehrt.
Wenn aber all dies nur immer neue Geschäftsmodelle beflügelt, bleibt der Mensch notwendigerweise auf der Strecke. Den aber hat die Sozialdemokratie aus den Augen verloren. Das musste so kommen, weil der Mensch dem Kapitalismus, dem die Sozialdemokratie sich verpflichtet fühlt, nur als Manövriermasse dient.
Der Mensch ist aber genau der Faktor - und der einzige, der dem Spuk ein Ende bereiten könnte. Also: bye bye!
"Wachstum bedeutet nur, dass Menschen mehr bewirken, wie auch immer, z.B. durch Mehrarbeit, höhere Effizienz, größere Zahl usw.. Daran ist an sich nichts verkehrt."
Genau da liegen Sie falsch! Wachstum ist verkehrt, wenn es, wie in unserer derzeitigen Gesellschaft im Wesentlichen dazu dient, künstlich erzeugte (Schein)bedürfnisse zu befriedigen, nur um die Maschinerie des Kapitalismus am Laufen zu halten und so Ressourcen verplempert, die nachfolgende Generationen und auch andere Teile der Welt dringend benötigen um überleben zu können. Es gibt kein Wachstum ohne Ressourcenverbrauch. Deshalb verbrauchen wir mehr, als uns zusteht.