Plötzlich Europäerin

Finanzen Angela Merkel überrascht ein weiteres Mal mit einer krassen Wende ihrer Politik. Dahinter steckt kühle Machtpolitik
Ausgabe 22/2020
Plötzlich Europäerin

Collage: der Freitag, Material: Getty Images, iStock

Jetzt ist es schon wieder passiert: Angela Merkel hat ein politisches Wendemanöver hingelegt, das viele andere aus der Kurve getragen hätte. „Es geht nicht, dass die Schulden vergemeinschaftet werden“, hatte die Kanzlerin noch im April zum x-ten Mal wiederholt. Keine vier Wochen später präsentierte sie mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein Projekt, das dem diametral zu widersprechen scheint: Die EU als Gemeinschaft nimmt 500 Milliarden Euro Schulden auf und verteilt das Geld unter die Staaten oder Regionen, die von Corona am stärksten betroffen sind – in Form von Zuschüssen und nicht, wie bisher in vergleichbaren Fällen, nur als Kredit.

Das stellt – einerseits – eine beachtliche Wende dar, die irgendwann vielleicht in einem Atemzug mit dem Ende der Wehrpflicht, dem Atomausstieg oder dem Mindestlohn genannt werden wird. Andererseits aber dürfte sich auch hier erweisen, dass die Kanzlerin ihre Grundüberzeugungen keineswegs über Bord geworfen hat. Immer ließen sich ihre Korrekturen aus strategischer Einsicht erklären: Wo ich Veränderung nicht aufhalten kann, nehme ich sie lieber selbst in die Hand und steuere sie so weit wie möglich mit dem Kompass meiner eigenen Ideologie.

So kommt es, dass wir eine „Energiewende“ erleben, die immer wieder an Kapitalinteressen ihre Grenzen findet, von Auto bis Kohle. Und so kommt es, dass eine Erhöhung des Mindestlohns wenigstens bis an die Grenze der Armutsgefährdung wohl unterbleiben wird, solange Merkel regiert. Und zugleich kassiert die Kanzlerin den „Kollateralnutzen“, als Ausgleich für mögliche Verluste am rechten Rand bis weit hinein ins linksgrüne Lager als Klimaschützerin und Hüterin des sozialen Ausgleichs gepriesen zu werden. Wer schaut schon ganz genau hin?

Nun also Corona. Hier hat Merkel ihren soundsovielten Image-Frühling erlebt. Der vergleichsweise milde Verlauf der Krankheit und ein ruhig-mütterlicher Ton lassen ihren Heiligenschein (lateinisch: Corona radiata) bis über den Atlantik strahlen: „In ihrem Streben nach sozialer und wirtschaftlicher Stabilität“ habe sich die Deutsche zur „Höchstleistung“ aufgeschwungen, ließ etwa die US-Schauspielerin Mia Farrow wissen. Zu Hause kannten die Merkel-Begeisterten ebenfalls keine Parteien mehr, während vernünftige Zweifel an der Einschränkung von Bürgerrechten vom Geschrei der Aluhut-Träger übertönt zu werden drohten.

Dürfen sich nun also auch diejenigen in den Fanblock einreihen, die unter „Vergemeinschaftung von Schulden“ schon immer etwas Positives verstanden haben, nämlich einen notwendigen Schritt zu einer echten Wirtschaftsunion? Das Duett mit Emmanuel Macron mag diesen Schluss nahelegen. Aber die Erfahrung lehrt etwas anderes. Der Ausfallschritt auf das Terrain der Integrationsbefürworter könnte sich als ein weiteres Beispiel für die hinlänglich bekannte Strategie erweisen: Flexibilität im Einzelfall, um das bestehende System im Ganzen zu erhalten.

Merkel selbst hat von einer „außergewöhnlichen, einmaligen Kraftanstrengung“ gesprochen. Das klingt, obwohl sie auch Änderungen der EU-Verträge für die Zukunft nicht ausschloss, keineswegs nach einer dauerhaften Erneuerung der EU. Seit Amtsantritt hat Merkel das Modell der nationalen „Wettbewerbsfähigkeit“ mit allen Mitteln verteidigt. Was Kanzler Schröder begonnen hatte, setzte sie unbeirrt fort: Die Industrie wird bei Lohnniveau, Steuern und Umweltauflagen geschont, um den „Exportmotor“ am Laufen zu halten. Dass dies zu ungesunden Ungleichgewichten in den Handelsbilanzen und letztlich auch zur Verschuldung anderer „Partner“ mit beitrug, spielte für die angebliche große Europäerin nie eine Rolle. Wer in dem Spiel verlor, sollte selber bezahlen. Oder bekam gegen massive Einsparungen neue Kredite, die entweder nur alte Kredite ablösten oder den Schuldenberg noch erhöhten.

Das einzige Gegenmittel bestünde, die Forderung ist so alt wie ungehört, in der Vervollständigung der Währungsunion durch eine gemeinschaftliche Wirtschafts-, Sozial- und Haushaltspolitik. Dazu würde selbstverständlich auch die „Vergemeinschaftung von Schulden“ gehören, und zwar nicht „einmalig“, sondern auf Dauer.

Nichts deutet darauf hin, dass Angela Merkel diesen Weg einschlagen wird. Dagegen spricht nicht nur ihr Hinweis auf die „Einmaligkeit“ der deutsch-französischen Initiative. Dagegen spricht auch, dass sie Emmanuel Macron beim Volumen wohl eher ausgebremst als angetrieben hat. Der französische Präsident hatte ursprünglich von mindestens fünf bis zehn Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung gesprochen, und das wären eher eine Billion Euro gewesen, nicht eine halbe.

Dass nun Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden die von Deutschland und Frankreich vorgeschlagenen Zuschüsse ganz ablehnen, wird der deutschen Kanzlerin nicht ganz ungelegen kommen. Die selbst ernannten „Sparsamen Vier“, die vor allem mit europäischer Solidarität noch sparsamer umgehen möchten, lassen Merkel umso strahlender als lernfähige Europäerin dastehen. Wer aber von Europa mehr erwartet als die Rettung der bestehenden halben Union aus der Corona-Krise, sollte sich davon nicht blenden lassen.

Stephan Hebel ist Journalist und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm Merkel: Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft

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