Spezialgebiet Anästhesie

Porträt Helge Braun verkörpert als Kanzleramtsminister den Merkelismus – und dessen Scheitern in der Corona-Krise
Ausgabe 10/2021
Probleme auszusitzen und Bürgerinnen zu sedieren, dafür schien dieser gemütliche Doktor aus Gießen überaus geeignet
Probleme auszusitzen und Bürgerinnen zu sedieren, dafür schien dieser gemütliche Doktor aus Gießen überaus geeignet

Foto: Jens Schicke/Imago Images

Wer würde diesen Mann kennen, gäbe es die Pandemie nicht? Schwer zu sagen, aber seine Talkshow-Frequenz wäre sicher niedriger. Jetzt aber ist Corona, und so kommt es, dass Helge Braun dem Land vertraut geworden ist, dessen Kanzlerinnenamt er leitet.

Erst vor knapp zwei Wochen saß der CDU-Mann wieder bei Anne Will, als sei er dazu geboren, auf einem Sack voller ungelöster Probleme zu thronen, die er partout nicht entweichen lassen will. Dazu hat die Natur (oder gar die eigene Absicht?) dem Hessen einen Gesichtsausdruck verliehen, bei dem nie ganz klar scheint, ob er nur staunt oder auch lächelt. So ließ der 49-Jährige die Kritik an der Corona-App, dem Impfchaos und dem Hickhack um Lockdown und Lockerungen über sich ergehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Nur einmal, als die Vorwürfe zu sehr in pauschale Häme abzugleiten drohten, blitzte Schärfe auf. „Jetzt kommen wir langsam ins Unterholz“, warf er kurz ein, und tatsächlich: Die allzu schrillen Töne verstummten.

In solchen Momenten lässt sich erahnen, warum Angela Merkel den Arzt aus Gießen vor drei Jahren zum Kanzleramtsminister machte. Braun ist, bei allen Unterschieden in Physiognomie und Habitus, so etwas wie die zweite Verkörperung des Merkelismus neben der Kanzlerin selbst. Die nach außen unerschütterliche Ruhe, verbunden mit wohldosierten Momenten demonstrativer Entschiedenheit – das ist genau die Mischung, die den Stil der ganzen Ära Merkel geprägt hat.

Biografisch verbindet die Kanzlerin und ihren Minister nicht viel außer dem naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt. Der Physikerin aus dem Osten, der sicher niemand übertriebene Geselligkeit und Genussfreude unterstellen würde, steht der in seiner mittelhessischen Heimatstadt Gießen tief verwurzelte Sohn eines Gynäkologen und einer Lehrerin gegenüber. Aber gemeinsam ist beiden ein sprichwörtlicher Fleiß und die Prise Humor, die im Arbeitsalltag viel wirksamer sein dürfte als im öffentlichen Auftritt. Nicht zu vergessen das Fehlen von Eitelkeit und Imponiergehabe, das beiden zu dem großen Vorteil gereicht, unterschätzt zu werden.

Unterschätzungsgefahr besteht allerdings auch, was inhaltliche Grundeinstellungen betrifft. Dass sich bei Merkel hinter dem Image der „Kanzlerin für alle“ eine marktliberale Ideologie verbirgt, wird zwar in weiten Teilen der Öffentlichkeit ignoriert, ist aber deshalb noch lange nicht falsch. Bei Helge Braun gibt es jenseits von Corona nicht sehr viel Inhaltliches, abgesehen von einer Äußerung zur Schuldenbremse, die es allerdings in sich hat.

Braun habe das zentrale Instrument des Sparzwangs infrage gestellt, hieß es oft, aber bei genauem Hinsehen lässt sich das Ganze auch anders lesen: Der Kanzleramtsminister forderte nichts weniger, als im Grundgesetz festzuschreiben, wann das investitionshemmende Kreditverbot wieder einzuhalten sei. Also: die Schuldenbremse auf Dauer zu retten.

Die ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan hatte den Abgeordneten 2009 als Staatssekretär in ihr Haus geholt. Im Kanzleramt wirkte er von 2013 an zunächst als Staatsminister und „durfte“ die Flüchtlingspolitik koordinieren. Und jetzt, seit der Beförderung zum Chef der Merkel-Behörde, soll Braun die Regierungsarbeit nicht nur zwischen den Ressorts im Bund sowie zwischen Bund und Ländern koordinieren, sondern auch noch das Thema Digitalisierung. Er tut das mit großem Engagement und durchaus kenntnisreich – woran sich allerdings vor allem ablesen lässt, wie wenig man in Deutschland mit viel Arbeit erreichen kann.

„Daran müssen wir arbeiten“, pflegt die Kanzlerin zu sagen, wenn Versäumnisse zur Sprache kommen – als hätte sie nicht in den vergangenen 15 Jahren selbst regiert. Ihr Namensvetter, der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, hat das einmal so beschrieben: „Es ist geradezu eine Strategie der Kanzlerin geworden, Probleme auszusitzen und nicht zu thematisieren (…), also nicht die Bürgerinnen und Bürger in die Debatte und den demokratischen Streit einzuführen und hineinzuziehen, sondern sie eher zu sedieren.“ Und genau dafür war neben ihr kaum jemand so geeignet wie der gemütlich wirkende Doktor Helge Braun, Spezialgebiet: Anästhesie.

Das Problem – oder doch eigentlich die gute Nachricht: Die Stillstands-Strategie funktioniert nicht mehr, und auch das lässt sich am Kanzleramtsminister gut studieren.

Eigentlich war es schon im Herbst der Geflüchteten 2015 mit der Gemütlichkeit vorbei. Und das zu Recht, auch wenn die Quittung für das lange Verdrängen globaler Krisen leider nicht in einer starken linken Bewegung bestand, sondern im Aufstieg der AfD. Aber 2020, am Anfang der Pandemie, sah es noch ganz gut aus für das Anästhesie-Team Merkel/Braun. Die Kanzlerin schien das Publikum mit mütterlichen Solidaritätsappellen wieder ruhigstellen zu können. Aber mit der Zeit verpuffte die Wirkung der warmen Worte angesichts der ganz realen Unfähigkeit, eine stringente Eindämmungspolitik zu entwerfen.

Es wirkte wie ein ungewolltes Eingeständnis des Scheiterns, als Braun jetzt bei Anne Will auf die Ausstattung der Gesundheitsämter mit einer gemeinsamen Software zu sprechen kam: „Daran arbeite ich seit einem Jahr“, seufzte er – gerade so, als hätten er und seine Chefin mit dem jahrelangen Digitalisierungsstau und dem Kaputtsparen der Ämter nichts zu tun.

Und jetzt? Helge Braun zieht weiter durch die Talkshows, aber die personifizierte Politik der ruhigen Hand wird angesichts offensichtlichen Regierungsversagens zur Karikatur. Und die Spekulationen, wonach Braun demnächst dem hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier nachfolgen könnte, sind in den Schubladen verschwunden.

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