Unser Rassismus

Debatte Von der Bundesliga bis zum Bundestag: Ausgrenzung gibt es auch in der Mitte der Gesellschaft
Ausgabe 25/2020

Ist Andrea Lindholz eine Rassistin? Sind Jan-Marco Luczak, Thorsten Frei und Daniel Günther Rassisten? Wohl eher nicht. Es sind weiße Menschen, die einer überwiegend weißen, in vieler Hinsicht rassistischen Gesellschaft angehören. Das Problem ist nur: Genau das haben sie offensichtlich noch nicht verstanden. Und so werden sie, wahrscheinlich ohne Rassistin oder Rassisten zu sein, zu Stützen des Rassismus. Andrea Lindholz (CSU) ist Vorsitzende des Innenausschusses im Deutschen Bundestag. Luczak und Frei sitzen für die CDU im Parlament, ihr Parteifreund Günther ist bekanntlich Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Alle vier haben sich unter Aufbietung einer beachtlichen Ignoranz gegen den Vorschlag gewehrt, in der bundesdeutschen Verfassung das Wort „Rasse“ zu streichen. Sie stehen damit beispielhaft für ein Verhalten, das rassistische Strukturen durch Duldung begünstigt und Widerstand verweigert. Einen Rassismus der Mitte, der sicher ebenso viel Beachtung verdient wie der manifeste Rassismus eines gewalttätigen weißen US-Polizisten oder eines weiß-deutschen Mörders.

Von einer „eher hilflosen Scheindebatte“ sprach Lindholz im Zusammenhang mit dem „Rasse“-Begriff im Grundgesetz, und ihr Fraktionskollege Frei tat die Idee als „sprachliche Überarbeitung“ ab, die uns „nicht voranbringen“ werde – als habe er noch nie gehört, dass politische Sprache die Machtverhältnisse nicht nur ausdrückt, sondern auch mitbestimmt.

Nur Theoriekram?

Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Jan-Marco Luczak, hatte zwar erkannt, dass das Verbot der Benachteiligung wegen Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ in dieser Wortwahl „weder dem heutigen Sprachgebrauch“ entspricht noch wissenschaftlich haltbar ist. Aber aus Gründen, die wohl nur er versteht, kam Luczak zu dem Schluss, dass das Diskriminierungsverbot gerade deshalb besonders wirksam sei. Daniel Günther schließlich bediente lieber anti-intellektuelle Reflexe, als sich um eine angemessene Sprache zu bemühen: „Ich engagiere mich lieber, um Rassismus entgegenzutreten, als mich um solchen Theoriekram zu kümmern.“

Bei keiner dieser vier Personen fehlt das Bekenntnis zu antirassistischem Engagement. Aber alle vier zeigen auch, wie weit diese Gesellschaft noch entfernt ist vom Bewusstsein ihres eigenen Charakters. Der Rassismus lebt keineswegs nur von eingefleischten Rassistinnen und Rassisten. Er lebt auch davon, dass er in seinen für Weiße weniger augenfälligen Erscheinungsformen übersehen, ignoriert oder spitzfindig wegdiskutiert wird.

Wie sagte doch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Dienstag dieser Woche: „Es reicht nicht aus, ,kein Rassist‘ zu sein. Wir müssen Antirassisten sein!“ Und das nicht nur, wenn es besonders dramatisch wird. Ganz gewiss ist es gut, dass Zehntausende auf die Straße gehen, weil der strukturelle Rassismus in den USA wieder sein mörderisches Gesicht gezeigt hat. Ganz gewiss ist es ebenso gut, wenn ein aufmerksamer Teil der Öffentlichkeit immer wieder lautstark darauf hinweist, dass Rassisten auch in Deutschland töten. Und es bleibt ein Skandal, wie rassistische Strömungen bei Bundeswehr oder Polizei ins Reich der „Einzelfälle“ wegdiskutiert werden.

Mordende Polizisten, rechter Terror, Verharmlosung: Gegen all das aufzustehen, ist eine schlichte Notwendigkeit, und klar ist auch, dass wir im Bus, am Arbeitsplatz oder in der Familie viel mehr Mut zum Widerspruch brauchen, wenn rassistische Klischees aufgerufen werden. Aber so wichtig das Protestieren gegen expliziten Rassismus ist, ob bei der Demo oder im kleinen Kreis, so wenig reicht es aus. Der Rassismus wirkt auch – und vielleicht besonders – dort, wo er den Angehörigen der weißen und alteingesessenen Mehrheit oft viel zu wenig auffällt. Bei anderen und nicht zuletzt bei sich selbst.

Rassistische Reflexe gibt es eben auch bei solchen Menschen, die das N-Wort nie in den Mund nehmen würden. Und sie stecken in sprachlichen Routinen – siehe die „Rasse“ im Grundgesetz –, deren verletzende Wirkung den meisten Weißen erst bewusst werden dürfte, wenn die davon Betroffenen darauf aufmerksam machen.

Eine nicht rassistische Gesellschaft anzustreben, bedeutet also gerade auch, bei sich selbst zu beginnen: Wie reagiere ich auf Menschen, die durch Aussehen und/oder Habitus vom weißen „Standard“ abweichen? Begegne ich bestimmten Gruppen pauschal mit einer inneren Abwehrhaltung, etwa weil ich ihnen pauschal eine erhöhte Neigung zur Kriminalität zuschreibe? Und, ganz wichtig: Wo steckt der Rassismus in meiner eigenen Sprache?

Es ist zunächst nicht einfach, zu verstehen, warum das Wort „Farbige“ nicht verwendet werden soll, der englische Begriff „People of Color“ dagegen sehr wohl. Aber wer möchte dagegen argumentieren, dass sich People of Color an den diskriminierenden Gebrauch der Zuschreibung „farbig“ in der Kolonialzeit erinnert fühlen? Welcher Zacken bricht uns Mehrheitsdeutschen aus der Krone, wenn wir uns an eine Wortschöpfung wie „PoC“ (People of Color) oder „BIPoC“ (Black, Indigenous, People of Color) gewöhnen sollen? Warum löst so etwas, genau wie die gendergerechte Sprache, bei so vielen Menschen nicht nur anfängliche Irritationen, sondern gleich allergische Reaktionen aus?

Die schleswig-holsteinische Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Landtags, Aminata Touré , hat noch auf einen weiteren Aspekt hingewiesen: Auch Menschen, die sich selbst als fortschrittlich und im Umgang mit anderen „farbenblind“ betrachten, haben Grund zur Selbstbefragung. „Am Ende muss stehen, dass diese Kategorien keine Rolle mehr spielen.“ Und sie fügte hinzu: „Aber auf dem Weg dorthin müssen wir uns über unsere Positionierung in der Gesellschaft klar werden. Viele würden für sich sagen: Hautfarbe spielt für mich keine Rolle – ich bin Weltbürgerin. (…) Aber die Situation einer schwarzen Person, die morgens auf die Straße tritt, ist eine andere. Wer das nicht sieht, weil er sich anders positioniert, ignoriert Lebensrealitäten.“

Ein einziger Abgeordneter

Bei sich selbst zu beginnen, das gilt wie beim Individuum auch für die Gesellschaft insgesamt: Wir müssen viel stärker dorthin schauen, wo der Rassismus seine weniger spektakulären, aber tief verwurzelten Erscheinungsformen zeigt, auch wenn er nicht tötet: in der Schule, in den Chefetagen, in der Bundeswehr, bei der Polizei und im Parlament. Oder eben im Grundgesetz.

Nur langsam dringt die strukturelle Diskriminierung nicht weißer Menschen in Wirtschaft und Bildung, in den öffentlichen Institutionen oder auch an den europäischen Außengrenzen ins allgemeine Bewusstsein. Dabei sind es genau diese Verhältnisse, die die Benachteiligung nicht weißer Menschen nicht nur spiegeln, sondern auch verfestigen.

Beispiel Wirtschaft: In den Führungsetagen deutscher Unternehmen ist die Unterrepräsentanz der sogenannten „BPoC“, also der Schwarzen und der People of Color, augenfällig. Am Beispiel einer ganz speziellen Branche, nämlich der 18 Klubs in der Fußball-Bundesliga, hat der Deutschlandfunk kürzlich nachgezählt. Das Ergebnis: Unter den 273 Führungskräften der Vereine lassen sich genau drei Personen als People of Color identifizieren. Schwarze Menschen gibt es, anders als in den Mannschaften, in den entscheidenden Gremien der Fußball-Unternehmen überhaupt nicht.

Beispiel Politik: Ein Bundestag, in dem ein einziger Abgeordneter mit schwarzer Hautfarbe sitzt – Karamba Diaby von der SPD –, wird keine übermäßige Sensibilität für Alltagsrassismus entwickeln, selbst beim besten Willen vieler Abgeordneter nicht. Diaby illustriert den strukturellen Rassismus inzwischen in so ziemlich jedem Interview mit dem Hinweis, er würde sich gern mal zu seinem eigentlichen Fachgebiet befragen lassen, der Bildungspolitik.

Klischees in Schulbüchern

Apropos Bildungspolitik: Wohl kein Bereich des gesellschaftlichen Lebens funktioniert so reibungslos als Stabilisator rassistischer Strukturen wie die Schule. Auf der einen Seite stehen – neben Fällen konkreter Beleidigung im täglichen Umgang – manifest diskriminierende Strukturen: dass ein „Migrationshintergrund“ die Chancen auf eine Gymnasialempfehlung und damit auf einen Abschluss mit Abitur massiv schmälert, ist hinlänglich bekannt.

Zum anderen wird Rassismus an deutschen Schulen offensichtlich immer noch gelernt – etwa, das bemerkt selbst die bundeseigene Antidiskriminierungsstelle, durch „Klischees in Schulbüchern“. In Berlin läuft gerade eine Petition an den Senat, in der sich die erstaunlichen Lücken des deutschen Bildungswesens spiegeln. Da wird zum Beispiel gefordert, die deutsche Kolonial- und die Migrationsgeschichte in die Lehrpläne aufzunehmen oder über „institutionellen und systematischen Rassismus“ aufzuklären. Kann es wahr sein, dass das nicht längst oder zumindest nicht ausreichend geschieht?

Bei aller berechtigten Empörung über die tödliche Polizeigewalt in den USA – den Blick auf „unseren“ rassistischen Alltag darf sie nicht trüben. Der britische Publizist und Soziologe Gary Younge hat gerade in The New York Review of Books auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den USA und Europa hingewiesen: „Bis vor relativ kurzer Zeit fanden die europäische Repression und der Widerstand dagegen vor allem in anderen Ländern statt. (…) Diese Auslagerung hat viel Raum gelassen für Leugnung, Verzerrung, Ignoranz und Spitzfindigkeiten.“

Der Satz klingt wie zugeschnitten auf deutsche Politikerinnen und Politiker, die die Befassung mit dem „Rasse“-Begriff im Grundgesetz als „Scheindebatte“ oder „Theoriekram“ abtun. Von einem Bundesinnenminister, der die Kategorie „deutschfeindlich“ in die offizielle Kriminalstatistik einführt, ganz zu schweigen. Horst Seehofer (CSU) dürfte sehr genau gewusst haben, dass er damit ein Instrument zur Relativierung von Rassismus bedient, das sich in der extremen Rechten größter Beliebtheit erfreut.

„Leugnung, Verzerrung, Ignoranz und Spitzfindigkeiten“: Sie lassen den Rassismus in Deutschland und Europa weiter gedeihen. Das Gedenken an Ermordete wie George Floyd sollte die Aufmerksamkeit dafür schärfen. Es darf sie auf keinen Fall schmälern.

Stephan Hebel ist Journalist und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm Merkel: Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft

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