Da staunten selbst Jungsozialisten: „Sprachlos“ machten ihn die Äußerungen seiner SPD-Genossin Nancy Faeser, sagte der stellvertretende Juso-Chef Birkan Görer in der vergangenen Woche. Und ergänzte, dann doch nicht ganz sprachlos, der Zusammenhalt der Gesellschaft dürfe „niemals auf Kosten der Hilfsbedürftigsten aufs Spiel gesetzt werden“.
Was war geschehen? Die Ministerin hatte auf Twitter erst die großzügige Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge gelobt und dann hinzugefügt: „Derzeit kommen auch über das Mittelmeer und die Balkanroute wieder erheblich mehr Menschen nach Europa. Das macht mir Sorge. Wir müssen klar für eine Begrenzung sorgen.“ Nicht nur beim Juso-Vize, sondern auch bei den
ch bei den Grünen erhob sich Protest.Unüberhörbar schwang dabei auch Überraschung mit: Nancy Faeser, 52, das war doch die engagierte Antirassistin aus dem linken SPD-Bezirk Hessen-Süd, die aufrechte Kämpferin für die Aufklärung rechten Terrors, die Erfinderin des „Chancen-Aufenthaltsrechts“, das geduldeten Migrantinnen und Migranten bessere Chancen zum dauerhaften Bleiben eröffnen soll! Hatte das Amt schon abgefärbt? So stark, dass jetzt auch die Sozialdemokratin in Sachen Flucht kaum anders klang als ihr Vorgänger Horst Seehofer von der CSU?Es gibt darauf eine einfache Antwort: Was nach Kehrtwende aussehen mag, ist gar keine. Sich einerseits mit humanitärer Verve für die Opfer rechtsextremer Gewalttaten hier im Land einzusetzen und andererseits die inhumane EU-Abschottungspolitik mitzutragen, das ist für diese eingefleischte Sozialdemokratin offensichtlich kein Widerspruch. Nicht nur Juso Görer hätte wissen können, dass das auch vor den jüngsten Äußerungen schon so war.Ein Beispiel: „Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich für eine starke Rolle der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ausgesprochen“, meldete die Deutsche Presseagentur im Februar dieses Jahres. „Faeser betrachte die Agentur als ,zentrales operatives Element‘ für den gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenzen und bei der Rückkehr von Flüchtlingen, sagte ein Sprecher von Faesers Ministerium. Frontex müsse daher weiter ausgebaut werden.“ Frontex, das ist bekanntlich das zentrale Instrument der EU zum Fernhalten Geflüchteter, gerade erst mit dem Vorwurf konfrontiert, bei „Pushbacks“ – also beim illegalen Ausliefern von Asylsuchenden – an Libyen tatenlos zugeschaut zu haben.Nein, Nancy Faeser hat keine Kehrtwende vollzogen, weder im mutigen Kampf gegen rechts noch im fragwürdigen Einsatz für eine rigide Flüchtlingspolitik. Sie lebt offensichtlich in der Überzeugung, dass die Gesellschaft in Deutschland ausreichend damit beschäftigt sei, die auch durch Zuwanderung entstandene Diversität ohne Hass und Gewalt zu leben. Sie teilt also, freundlich ausgedrückt, die verbreitete Befürchtung, dass mehr Zuwanderung zu noch mehr Konflikten führen würde.Das dürfte auch der politischen Biografie der Juristin geschuldet sein, deren Vater ebenfalls Sozialdemokrat und Bürgermeister in ihrem hessischen Heimatort Schwalbach war, und die selbst in der Kommunalpolitik groß geworden ist. Sie kennt die ganz praktischen Mühen und Konflikte, mit denen die Aufnahme Geflüchteter vor Ort zweifellos oft verbunden ist.So gut also Faesers Motiv gemeint sein möge, so wenig ändert das an der traurigen Realität: Die Opfer, die die sogenannte „Sicherung der Außengrenzen“ zum Beispiel im Mittelmeer fordert und die nur durch eine geregelte wie großzügige Einwanderungspolitik zu vermeiden wären, bezahlen nicht selten mit ihrem Leben für diese Logik.Nicht besser wird es dadurch, dass Faeser die Lage kaum anders als ihre Vorgänger dramatisiert. Zwar stimmt es, dass von Januar bis September „erheblich mehr“ Asylsuchende Einlass in die EU gesucht haben als im Vorjahr – Frontex meldet einen Zuwachs um 70 Prozent auf 228.240 „illegale Grenzübertritte“. Aber erstens betont die Agentur selbst, dass in der Zahl auch wiederholte Einreiseversuche derselben Personen enthalten sein könnten. Und zweitens dürfte auch Nancy Faeser sich erinnern, dass mit vielleicht 300.000 Geflüchteten bis Ende Dezember in der ganzen EU nicht einmal die „Obergrenze“ eines Horst Seehofer (200.000 pro Jahr allein in Deutschland) erreicht wäre. Und dass es unseriös wäre, die Ukraine-Kriegsflüchtlinge einfach mitzuzählen, die ja bewusst anders eingestuft und besser behandelt werden als Asylsuchende, sollte der Ministerin ebenfalls bekannt sein.So traurig die Sache also in Sachen Asyl aussieht, so wenig tut das dem glaubwürdigen Engagement von Nancy Faeser in Sachen Rechtsextremismus und Rassismus Abbruch. Wer es nicht glaubt, sollte die Angehörigen von Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov fragen. Das sind die Opfer des rechten Terroranschlags in Hanau am 19. Februar 2020, und von deren Verwandten gibt es nur eine Antwort: Nancy Faeser setzt sich ehrlich für ein würdiges Gedenken und für konsequente Aufklärung ein.Das galt genauso im NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags, es galt für den Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, es gilt für den Skandal um die „NSU2.0“-Drohschreiben, und es gilt für rechtsextreme Chatgruppen bei der Polizei. Immer war die damalige Partei- und Fraktionsvorsitzende der Hessen-SPD um Aufklärung bemüht.Wenn aber Nancy Faeser meint, die deutsche Gesellschaft könne angesichts der rechtsextremen Gefahr kaum noch Zuwanderung ertragen, dann ist das kein gutes Zeugnis für sie – und ein ungewolltes Zugeständnis an Abwehrreflexe, die der extremen Rechten in die Hände spielen.