Zehn Jahre liegt der Höhepunkt der letzten großen Finanzkrise zurück. In der Frage, ob Ähnliches wieder geschehen kann, schwankt der ökonomische Mainstream zwischen der Versicherung, dass Krisen verhindert werden können, und der Sicherheit, dass eine Krise auf jeden Fall kommen wird. „Nicht zu unseren Lebzeiten“ sei der nächste Crash zu erwarten, sagte die Ex-US-Notenbankchefin Janet Yellen, schließlich seien die Banken stabiler. Man habe aus der Krise gelernt und die Sache unter Kontrolle. Andererseits wird die nächste Krise kaum zu verhindern sein, denn „eine Krise hat in der Regel dort ihren Ursprung, wo man es nicht erwartet“, so Europas oberste Bankenaufseherin Danièle Nouy.
Das charakteristische Nebeneinander von Selbstsicherheit und Hilflosigkeit – man hat die Finanzmärkte im Griff und ist gleichzeitig im Griff der Finanzmärkte – verdankt sich der Materie, um die es hier geht: dem Kredit, der im populären Krisendiskurs meist „Schulden“ genannt wird. Kredit und Schuld, das sind zwei Seiten derselben Sache, einmal ausgedrückt als Freiheit, einmal als Bedrohung.
Vor zehn Jahren, im September 2008, ging die US-Investmentbank Lehman Brothers unter, und die damals bereits seit Monaten gärende Finanzkrise erreichte einen Gipfel, auf dem der Bestand des Systems bedroht war. Seitdem sind viele Krisenerklärungen geliefert worden. Liberale Ökonomen geben den niedrigen Zinsen der Zentralbanken oder staatlichen Kredithilfen die Schuld, Linke klagen über gierige Banker und entfesselte Finanzmärkte. Einig sind sie sich darin, dass diese Faktoren zu einem Übermaß an schlechten Krediten im Immobiliensektor führten. „Reckless lending“ lautet die Diagnose, leichtsinnige, verantwortungslose Kreditvergabe. Symbolisiert wird dies durch die Mitte der 2000er beliebten NINJA-Darlehen – Kredite an US-Hauskäufer ohne Einkommen, Arbeit oder Sicherheiten (no income, no job, no assets).
Der nächste Crash – Die Serie
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„Reckless lending“ – hinter diesem Befund steht die Annahme, schon im Moment der Kreditvergabe hätte den Banken klar sein können, dass sie hier eine „Blase“ aufpumpen, die platzen wird, platzen muss. Doch hätten sie die Gefahren negiert, so der Vorwurf. Formuliert wird der Grund der Finanzkrise damit als Problem der angemessenen Menge: Es darf nicht zu viel Kredit an die falschen Schuldner vergeben werden, das muss die Politik durch die Regulation des Finanzsektors verhindern.
Dabei steht die Politik allerdings vor einem grundsätzlichen Problem. „Zu viel“ schlechter Kredit soll nicht sein. Genug guter aber schon. Denn Kredit ist das Lebenselixier der kapitalistischen Wirtschaft. Staaten machen Schulden, um als nötig erachtete Ausgaben zu tätigen, für die gerade kein Geld da ist. Privathaushalte brauchen Kredit, um die Schranken ihres Einkommens zu überwinden, zum Beispiel für den Hauskauf. Unternehmen brauchen Fremdkapital, um Liquiditätsengpässe zu überbrücken, um neue Investitionen zu tätigen oder überhaupt auf den Markt zu treten – Firmen wie der US-Elektroautobauer Tesla würden ohne Darlehen überhaupt nicht existieren. All dieser Kredit schafft Nachfrage, die es ohne ihn nicht gäbe.
Vom Standpunkt des erfolgreichen Wirtschaftens aus soll für jedes lukrative Geschäft Kapital da sein, kein Prozentpunkt Wachstum soll am Kreditmangel scheitern. Nur ein florierender Finanzsektor schafft die Kapitalmassen, die den Wirtschaftsboom nähren und die vergebenen Kredite dadurch rechtfertigen. Die Politik achtet daher stets darauf, die Banken nicht durch scharfe Regulierung an der Kreditvergabe zu hindern.
Die Entwertung wartet schon
Das Angebot an Kredit ist potenziell unbegrenzt – die Geschäftsbanken können ihn in Zusammenarbeit mit der Zentralbank nach Belieben schaffen. Der Kredit und sein Wachstum kennen daher nur eine Schranke: den eigenen Erfolg. Solange die Schulden einen Aufschwung finanzieren, sind sie gut und gerechtfertigt. Finanzieren sie unprofitable Geschäfte, sind sie schlecht und führen ab einem gewissen Ausmaß zur Krise. Wie 2008.
„Reckless lending“ – mit diesem Vorwurf an die Banken ergeht an sie der Auftrag, nur noch rentable Geschäfte zu finanzieren. Ein unmöglicher Auftrag. Denn ob genug oder zu viel Kredit vergeben wird, ist keine Frage der richtigen Menge, die von vornherein gewusst werden könnte. Ein Kredit ist Spekulation auf die Zukunft. Sein Ausgangspunkt ist die Erwartung, dass das geliehene Geld Wachstum finanziert, das dem Schuldner die Rückzahlung ermöglicht und dem Gläubiger Rendite einspielt. Doch wenn ein Staat, ein Unternehmen, eine Bank oder ein Hauskäufer in die Klemme gerät, ist oft nicht sicher, ob hier nur eine vorübergehende Geldknappheit vorliegt, die Überbrückungskredite rechtfertigt. Oder ob hier gutes Geld schlechtem hinterhergeworfen wird. Erfolg und Misserfolg der Spekulation erweisen sich erst im Nachhinein.
Genau das kennzeichnet die gegenwärtige ökonomische Weltlage: der Kampf der ökonomischen Weltmächte um die Frage, wo die Spekulation aufgeht und wo nicht, wessen Schulden sich verwerten und wessen sich entwerten müssen. Der Kampf gewinnt an Schärfe. Denn weltweit haben die Staaten und Unternehmen Kredit in nie gekannter Masse aufgenommen – Schulden, die Anspruch auf Rendite darstellen. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich haben Kreditgeber den Staaten inzwischen 63 Billionen Dollar geliehen, doppelt so viel wie vor zehn Jahren. Inklusive der privaten Schulden kommt eine Summe von 237 Billionen Dollar zusammen, 70 Billionen mehr als vor dem Lehman-Crash. Die Gesamtschuld beläuft sich mittlerweile auf mehr als das Dreifache der globalen Wirtschaftsleistung, deren Wachstum die Kreditmassen in Wert setzen soll.
Zugleich sinkt die Kreditqualität kontinuierlich. Inzwischen gibt es weltweit nur noch elf Regierungen, die über die beste Kreditwürdigkeit – das AAA der Rating-Agenturen – verfügen, so der Ökonom Sony Kapoor in einem Bloomberg-News-Artikel. Nachdem die Unternehmen in den USA ihre Schulden auf über sechs Billionen verdoppelt haben, gebe es nur noch zwei Unternehmen mit AAA-Note.
All diese Kredite sind eine Spekulation der Geldgeber auf gelingende Geschäfte. Das Gleiche geschieht an den Aktienmärkten: Der US-Börsenindex S & P hat den längsten Aufschwung seiner Geschichte hinter sich. Der Index für US-Hochtechnologiewerte, Nasdaq, steigt von einem Rekord zum nächsten, seit März 2009 hat er rund 600 Prozent zugelegt. Von allen US-Unternehmen, die im vergangenen Jahr an die Börse gingen, waren 75 Prozent unprofitabel – ein Wert, den es zuletzt auf dem Höhepunkt der Internet-Euphorie 2000 gab. Tesla „verbrannte“ zuletzt 8.000 Dollar pro Minute, der Elektroautobauer hat sich zehn Milliarden Dollar Schulden aufgeladen und hat dennoch eine Börsenbewertung von 50 Milliarden Dollar. Der Streaming-Dienst Netflix lieh sich seit 2013 mehr als zehn Milliarden für seine Expansion und ist an der Börse mit dem 150-Fachen seines Jahresgewinns bewertet. Netflix’ Marktwert in Höhe von 160 Milliarden Dollar ist eine Wette auf eine goldene Zukunft. Wie anspruchsvoll die Erwartungen sind, zeigte zuletzt Facebook: Die Aktie brach an einem Tag um 24 Prozent ein, weil das Unternehmen nur noch 42 Prozent Umsatzwachstum erzielte.
Theoretisch ist es kein Rätsel, dass diese Massenspekulation auf künftige Gewinne nicht in allen Fällen aufgehen kann. Die Praktiker in der Politik allerdings interessiert weniger, ob eine Entwertung ansteht, als wo sie geschieht. Die Konkurrenz der Standorte dreht sich um die Frage, bei wem die künftigen Pleiten stattfinden werden und wer sich relativ schadlos halten kann.
Ein fragiles System
Dabei greift die Politik zu einem bewährten Mittel: noch mehr Kredit. Die USA schenken ihren Unternehmen per Steuersenkung in den nächsten Jahren Milliarden Dollar und versuchen auf diese Weise, die Vereinigten Staaten zum Magneten für das globale Kapital zu machen. „Nie gab es eine bessere Zeit, um in den USA Geschäfte zu machen“, wirbt Präsident Donald Trump. Der Preis dafür sind neue Haushaltsdefizite, die in die Billionen gehen.
Japans Regierung hat mittlerweile einen Schuldenberg in Höhe von 250 Prozent seiner Wirtschaftsleistung aufgehäuft und zeigt keine Neigung, diesen Wert zu senken. Fast die Hälfte seiner Verbindlichkeiten schuldet der japanische Staat sich selbst – die Zentralbank hat einen Großteil der Staatsanleihen aufgekauft. China wiederum fährt über seine staatlichen Banken die Verschuldung der Unternehmen hoch. Der Anstieg seit 2008 entspricht 70 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Gleichzeitig hat China ein Konjunkturprogramm aufgelegt, das auf steigenden Staatsdefiziten beruht.
Dieser Kreditboom verhindert Pleiten und Entwertung und damit eine Bereinigung des Marktes. Die strukturelle Überproduktion bleibt bestehen, immer größere Kreditmassen kämpfen um die verbliebenen Renditequellen. Daher hat die US-Regierung damit begonnen, das globale System von Handel und Investitionen so umzuordnen, dass die Erträge vermehrt in den USA anfallen. Diese verharmlosend „Handelskrieg“ genannte Offensive dreht sich um sämtliche Sphären des Geschäftsverkehrs: grenzüberschreitenden Kauf und Verkauf, Rechte ausländischer Investoren, Zugang zu Staatsaufträgen, Öffnung inländischer Märkte für ausländisches Kapital, Produktnormen, die Übernahme heimischer Firmen durch Ausländer und die Sicherung des technologischen Vorsprungs durch Schutz des geistigen Eigentums. Europa und Asien beantworten die US-Offensive mit entsprechenden Gegenmaßnahmen, um ihre Akkumulationsquellen zu schützen. Der Streit lässt das geltende Welthandelssystem erodieren sowie die Einigkeit der NATO, deren militärische Macht das globale System absichert.
Während die USA und China ihre Verschuldung freihändig erhöhen, spielt die Eurozone die Gegenstrategie. Insbesondere die Bundesregierung zwingt den Rest Europas zur Zurückhaltung bei der Neuverschuldung und will so die Kreditwürdigkeit der prinzipiell vom Zusammenbruch bedrohten Währungsunion festigen. Gleichzeitig werden im Namen der „internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ Europas Standorte so umgebaut, dass sie sich in der globalen Konkurrenz durchsetzen und vom Wachstum der Konkurrenten profitieren. Eine wesentliche Rolle spielen hier Reformen der Arbeitsmärkte, über die die Arbeitnehmer verbilligt und so Kostenvorteile erzielt werden sollen. „Europa nutzt uns aus“, kritisiert Trump diese Strategie, und bereits seine Vorgänger beklagten, die EU tue nicht genug für das weltweite Wachstum.
Der Kampf der Standorte unterminiert das ohnehin fragile System und rückt es stetig näher an die nächste Krise. Neoliberale Ökonomen warnen vor der wachsenden Verschuldung und fordern Sparsamkeit zum Schutz des Wachstums. Linke Ökonomen dagegen sehen in zusätzlichen Krediten eine Chance für „Zukunftsinvestitionen“ und warnen davor, dass Sparsamkeit das Wachstum bedroht. Beide haben recht. Die einen betonen, dass Schulden ein Anspruch auf Bedienung, also auf künftiges Wachstum sind und sie dieses Wachstum gleichzeitig mit Zinsansprüchen belasten. Die anderen betonen die Freiheit, die weitere Kredite bieten – Freiheiten, die allerdings bloße Möglichkeiten eröffnen.
Dass dies irgendwann zum Crash führen wird, ist sicher. Die Spekulation kann nicht für alle aufgehen. Das Absturzpotenzial ist vorhanden, und „an Anlässen für einen Absturz wird es nicht fehlen“, so der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister. Wann dieser Absturz geschieht und wo er herkommt, das weiß allerdings niemand. Die Historie, auch der Lehman-Crash, ist kein Lehrmeister. „Kein Markt-Schock gleicht dem anderen“, schreibt der Ökonom Sony Kapoor. „Und kein Investor beherrscht bislang das Crash-Timing.“
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