Das nationale Kollektiv

Verteilungskampf Die Abgrenzung nach außen wird zum globalen Trend
Ausgabe 32/2018

Die Debatte um Mesut Özil ist fast vorüber. Dass der Fußballer die deutsche Nationalhymne nicht mitsang, dass er sich mit dem türkischen Präsidenten fotografieren ließ, dass er die Existenz von Rassismus in Deutschland feststellte und schließlich aus der Deutschland repräsentierenden Fußballmannschaft ausstieg – all das mündete in eine Debatte über „Integration“ von Menschen, die als Gruppe lediglich zwei Merkmale verbindet: Sie leben in Deutschland, und ihre Integriertheit wird irgendwie angezweifelt. „Integrationsdefizit“ lautet die Diagnose. Worin besteht dieses Defizit? Und warum hört die Debatte nicht auf, sondern gewinnt an Schärfe – und wird sich bald neues Material suchen?

Früher, in den 1950er, 1960er, 1970er Jahren, reichte es aus, sich als Ausländer aus den Armutsregionen der Welt für die westdeutsche Wirtschaft den Rücken krummzuschuften. Als Billiglöhner galt man als ausreichend integriert. Solange die ausländische Arbeitskraft vom deutschen Kapital rentabel konsumiert wurde, ihre Steuern zahlte und sich ansonsten unauffällig verhielt, galten Sitten, Glaube, Deutschkenntnisse als Privatangelegenheit, ebenso wie die Frage, ob man sich eher als Deutscher oder Türke fühlt. Sicher verfügte die Gesellschaft schon damals über genug Potenzial an Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Doch wurde es kaum aktiviert.

Wir und die Werte

Heute ist der Anspruch höher. Mangelnde Kenntnis der deutschen Sprache, Geschichte oder Kultur gelten nicht länger nur als Integrationshindernis, sondern wecken Verdacht auf mangelnden Integrationswillen und Respekt vor Deutschland. Selbst wer perfekt deutsch spricht, einen deutschen Job und Pass hat und alle Bundeskanzler chronologisch aufsagen kann, dessen Privatleben wird durchforstet nach Verhaltensweisen, die daran zweifeln lassen, dass er oder sie „zu Deutschland steht“. Gefragt ist nichts weniger als ein Bekenntnis. Von Menschen mit „Migrationshintergrund“ wird ein ganz abstraktes Ja zu Deutschland gefordert, trotz Arbeitslosigkeit, Armut und schlechteren Chancen auf dem Wohnungsmarkt. Verlangt ist bedingungslose Parteilichkeit zur deutschen Klassengesellschaft, die als Wertegemeinschaft idealisiert wird.

Das nationale Kollektiv schließt sich. Neu bewertet wird, wer zu „uns“ darf, und wer von denen, die schon hier sind, überhaupt zu „uns“ gehört. Die Abgrenzung nach außen wird radikaler ebenso wie die Forderung nach Gefolgschaft im Inneren. Das ist keine deutsche Besonderheit. Ähnliches findet in vielen Ländern statt. Ausländer- und Integrationsdebatten stehen auf der Agenda in Österreich, Ungarn, den USA, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Australien und in anderen Staaten. Schon von daher ist es unwahrscheinlich, dass die deutsche Debatte ein Werk der AfD ist. Naheliegender ist, dass die AfD ein Produkt einer allgemeinen Bewegung ist, die sie trägt.

Geboren wurde diese Partei nicht aus der Migrationsdebatte, sondern aus der Kritik an Kreditprogrammen für „faule Griechen“ und am Euro. Problemlos mutierte sie zu einer Antiausländerpartei, weil sie sich letztlich treu blieb, indem sie penetrant die gleiche Beschwerde formulierte: Das Ausland oder die Ausländer nutzen uns nur aus, für die ist Geld da, für uns nicht! Damit spiegeln die AfD und rechte Parteien in anderen Ländern eine Unzufriedenheit wider, die sie nicht erfunden haben: eine Unzufriedenheit der politischen Elite mit Macht und Status der eigenen Nation in der Welt.

Die AfD sieht Deutschland von Ausländern überrannt, von den USA gegängelt, von Südeuropa ausgenutzt. Präsident Trump will Amerika wieder stark machen und fordert „Amerika zuerst“. Der französische Staatschef Macron beschwört die „Gloire de la patrie“ und wehrt sich gegen eine „Spaltung des Landes, die es nicht mehr erlaubt, auf die Herausforderungen der Welt zu antworten“. Italiens Innenminister Salvini verlangt: „Zuerst kommen die Italiener!“ Im „Zeitalter der Globalisierung und weltweiten Verteilungskämpfe besonders gegen die USA, Russland, China, in der islamischen Welt und anderen Teilen der dritten Welt“ fordert die FPÖ: „Österreich zuerst!“ Japans Premier Shinzō Abe erinnert seine Landsleute daran, dass „Japan auch heute wieder vor einer kritischen Lage steht“, genauso wie vor 150 Jahren, als eine „Welle des Kolonialismus über Asien hereinbrach“.

Billig und willig

Die „neue soziale Frage“ sei nicht mehr die der „Verteilung des Volksvermögens zwischen oben und unten, sondern zwischen innen und außen“, so formuliert AfD-Mann Björn Höcke einen international weit geteilten Standpunkt. Kampf steht an, und er beherrscht derzeit die Weltpolitik. Der sogenannte Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Asien ist nur die sichtbarste Manifestation dieses Kampfes um die Erträge der Weltwirtschaft. Sämtliche existierenden Formen der globalen Kooperation – von der Welthandelsorganisation WTO über die NATO, das Klimaabkommen oder Freihandelsverträge – werden auf den nationalen Nutzen geprüft. Aufgekündigt ist damit der Standpunkt, irgendwie profitierten doch alle von den bestehenden Regeln.

Wie bei jeder Mobilisierung entspricht der Abgrenzung nach außen die Schließung des nationalen Kollektivs nach innen. Der Status des Inländers wird zum Privileg, für das man Gefolgschaft schuldet. Jede Regierung rüstet ihr Land für die großen Verteilungskämpfe, in der die nationale Arbeitskraft ihre stärkste Waffe ist. Die muss billig und willig sein, bereit zum Einsatz – und zum Verzicht. „Frankreichs Arbeitnehmer verdienen zu viel“, das Land „erstickt unter Versorgungsansprüchen“, mit diesen Worten hat Emmanuel Macron seine Landsleute auf die neue Offensive vorbereitet. Alle sozialen Probleme und Differenzen sollen nichts mehr gelten. Ob Arbeitslose, Fußball-Millionäre, Bankmanager, Wohnungslose – die Klassengesellschaft steht wie ein Mann und eine Frau hinter ihrer Regierung im Kampf der Nation um Selbstbehauptung.

Das Proletariat hat kein Vaterland, hieß es früher. Und heute müsste man hinzufügen: Auch nicht zwei.

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