„Unser Geld“, das gibt es nicht

Inflation Die Preise steigen steil an, die Gründe dafür sind vielfältig. Bezahlen muss aber vor allem eine Gruppe: die Beschäftigten
Ausgabe 42/2021
Zwar wird im privaten Rahmen stets darüber geklagt, dass alles so teuer ist. Üblicherweise aber gilt nicht der Preis als zu hoch, sondern das eigene Einkommen als zu niedrig
Zwar wird im privaten Rahmen stets darüber geklagt, dass alles so teuer ist. Üblicherweise aber gilt nicht der Preis als zu hoch, sondern das eigene Einkommen als zu niedrig

Foto: blickwinkel/IMAGO

Wer im Kapitalismus etwas braucht, muss es kaufen. Vor Genuss oder Verbrauch hat der Markt die Zahlung gesetzt. Denn all die schönen Dinge werden zwar – wie in jedem System – arbeitsteilig und daher gesellschaftlich produziert. Als Waren jedoch sind sie das Eigentum von Personen oder Institutionen, die mit ihnen einen Profit machen wollen und sie daher nur gegen Bezahlung an jene abgeben, die sie brauchen. Auf diese Weise ist im Kapitalismus für Geld alles zu haben, aber alles eben nur für Geld, was zu dem charakteristischen Nebeneinander von Überfluss und Mangel führt.

Wer konsumieren will, muss zahlen: Die Preise trennen also die Bedürfnisse von den Mitteln ihrer Befriedigung. Das gilt als normal. Zwar wird im privaten Rahmen stets darüber geklagt, dass alles so teuer ist. Üblicherweise aber gilt nicht der Preis als zu hoch, sondern das eigene Einkommen als zu niedrig, was zwar das gleiche Verhältnis ausdrückt, die Verantwortung dafür aber der Käuferseite zuweist. Wer sich etwas nicht leisten kann, muss halt mehr verdienen. Nur selten werden die Preise zum politischen Thema – wenn sie schneller steigen als gewöhnlich. Dann besteht „Inflationsgefahr“, so wie derzeit, und es wird debattiert, ob die aktuell hohe Inflationsrate vorübergehend oder von Dauer ist, ob die „Mega-Inflation unser Geld“ auffrisst (Bild) oder nur Teile davon. Bemerkenswert ist, dass unter dem Warnruf „Inflationsgefahr“ vier ganz unterschiedliche Notlagen vermischt werden.

Da sind erstens die Konsument:innen, die vom Preisanstieg betroffen sind. Obst, Benzin, Erdgas, Computer – alles wird teurer. Das bedeutet, dass größere Teile des Haushaltsbudgets dafür draufgehen. Inflation macht Verbraucher also zunächst ärmer. Und sie trifft vor allem jene, die ohnehin wenig Geld haben: 34 Millionen Menschen in der Europäischen Union fehlen die Mittel für ausreichend Strom und Heizung. In Deutschland befördert armutsbedingte Mangelernährung die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Armen und Reichen. Gelöst werden könnte das Problem steigender Preise dadurch, dass die Konsumentinnen mehr verdienen. Doch das wird zum einen politisch unterbunden – Sozialhilfeempfänger erhalten nächstes Jahr 0,76 Prozent mehr Geld, obwohl die Inflationsrate aktuell mehr als vier Prozent beträgt. Zum anderen wird sogar davor gewarnt, dass die Löhne stark steigen könnten in Zeiten, in denen für die Unternehmen ohnehin alles teurer wird.

Damit ist man bei der zweiten Gruppe: den produzierenden Unternehmen, deren Kalkulationen unter steigenden Preisen für Rohstoffe und Vorprodukte leiden. Sie stehen vor der Wahl: Entweder geben sie die höheren Kosten nicht weiter, verzichten also auf Profit. Das würde ihre Rendite beeinträchtigen. Oder sie schlagen die höheren Kosten auf ihre Preise auf. Damit allerdings verschlechtern sie ihre Position im Wettbewerb und beschädigen daneben auch die Nachfrage – „Wie lange werden die Verbraucher die steigenden Preise zahlen können?“, fragt die Nachrichtenagentur Bloomberg besorgt.

Für die dritte Gruppe ist Inflation eigentlich kein Problem, sondern nur ein Faktor bei der Bewertung von Investitionsalternativen: Finanzanleger reagieren auf dauerhaft höhere Inflation, indem sie höhere Zinsen fordern oder ihre Investitionen in Anlagen mit höheren Renditen – Aktien, Immobilien – umschichten. Auf diese Weise gleichen sie den inflationsbedingten Renditeverlust aus.

Daher rührt die Sorge, eine dauerhaft höhere Inflationsrate könnte zu einem höheren Zinsniveau führen. Steigende Zinsen wiederum könnten zunächst dem Aktien- und Immobilienmarktboom ein Ende bereiten und zu drastischen Wertverlusten führen. Das ist das eine. Das andere: In den vergangenen Jahren hat die Weltwirtschaft ihre verschiedenen Krisen stets ohne größere Schäden überlebt, weil Regierungen ihre Verschuldung und Zentralbanken ihre Ankaufprogramme drastisch gesteigert haben. Das „befremdliche Gleichgewicht der Weltwirtschaft“ besteht in einem eher kränklichen Wirtschaftswachstum und einem fragilen Börsen- und Finanzmarktboom, die durch zusätzliche Verschuldung aufrechterhalten worden sind. Basis dieses Arrangements war die niedrige Inflation, die das Zinstief rechtfertigte.

Wenn nun aber die Inflation ansteigt, dann ist dieses Arrangement gefährdet, und zwar zu einem sehr sensiblen Zeitpunkt. Denn viele Industrienationen legen derzeit Schuldenprogramme auf, um die grüne und die digitale Revolution der kommenden Jahre zu finanzieren. Die vierte Gruppe der Inflationsbetroffenen sind damit die Staaten. Angesichts steigender Inflationsraten sorgen sie sich um das Vertrauen der Anleger in ihre Währungen, das sie brauchen, um im nächsten Level der Weltmarktkonkurrenz mitzuspielen.

Grund zur Sorge, darin sind sich derzeit alle Wirtschaftsexperten einig, besteht aber nur, wenn die Geldentwertung dauerhaft hoch bleibt. Das ist aber unwahrscheinlich, solange die Löhne nicht stark steigen, es also keine „Lohn-Preis-Spirale“ gibt. Dass die abhängig Beschäftigten den Kaufkraftverlust durch entsprechende Lohnerhöhungen kompensieren könnten – das scheint derzeit die größte Gefahr für das Weltfinanzsystem und „unser Geld“ zu sein.

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