Schuldenerlass, das Wort hat einen guten Klang. Die Streichung von Schulden gilt als Hilfe für die Armen und ist daher eine gängige linke Forderung, etwa um Griechenland aus der Schuldenfalle zu befreien. Umso überraschender, dass die lauteste Forderung nach Schuldenerlassen derzeit von Wirtschaftsliberalen kommt. Mit einem Mechanismus zur geregelten Staateninsolvenz wollen auch Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble oder FDP-Chef Christian Lindner eine Lehre aus der Eurokrise ziehen. Solch ein Mechanismus würde die Währungsunion freilich gründlich verändern, die Hierarchie in ihr festschreiben – und den Armen wenig nützen. Er wäre ein vergiftetes Geschenk.
Zunächst erscheinen Schuldenstreichungen wie eine Robin-Hood-Maßnahme: den Armen geben, den Reichen nehmen, dem Krisenland den Neuanfang ermöglichen. Die Kapitalbesitzer dagegen, meist die Banken, müssen auf Forderungen verzichten. Sie zahlen für die Krisenbereinigung, anstatt an ihr zu verdienen. Das erscheint nur gerecht. Aber auch wirtschaftsliberale Gemüter können mit Schuldenschnitten viel anfangen. Wenn Banken für ihre Fehlinvestitionen haften müssen – und ein zahlungsunfähiger Schuldner ist eine Fehlinvestition –, so ist das marktgerecht. Die Drohung mit Schuldenschnitten veranlasst aus dieser Sicht die Kapitalgeber zu verantwortungsvoller Kreditvergabe. Sie können sich nicht länger darauf verlassen, dass die Allgemeinheit einen Schuldner wie Griechenland zahlungsfähig hält und ihnen damit ihre Gewinne garantiert.
Risiko der Marktpanik
Daher schlug der Sachverständigenrat der Bundesregierung bereits 2015 einen veränderten Mechanismus vor. Nach ihm sollen in Not geratene Euroländer eine Art Insolvenzverfahren durchlaufen, in dessen Verlauf Forderungen an den Schuldner gestrichen werden. So warb die FDP in ihrem Wahlprogramm 2017 dafür, dass „mit einem Insolvenzverfahren der Ausfall eines Staates als Schuldner zum realistischen Szenario wird, was das Risikobewusstsein der Gläubiger erhöht“.
Wenn das Risikobewusstsein der Geldgeber steigt, hat das gravierende Folgen: Bislang gelten Anleihen von Staaten – besonders von Industriestaaten – als bombensichere Geldanlage. Mit der Einführung eines Insolvenzregimes würden ein Schuldenschnitt und damit die Vernichtung von Kapital der Geldgeber zur realen Möglichkeit. Von der Ausnahme – wie im Fall Griechenland – wird er zur Normalität. Je ärmer und verschuldeter ein Land, umso höher das Risiko für Investoren – und je höher der Zins, den sie verlangen.
Damit teilt sich die Eurozone in starke Nationen, die billig an Kredit kommen, und schwache Länder, die hohe Zinsen zahlen müssen. Das eherne marktwirtschaftliche Gesetz, nach dem Kredite ausgerechnet für die Ärmeren auch noch teurer sind, gefällt liberalen Denkern: denn nach ihrer Logik wird so Überschuldung verhindert – einfach weil arme Länder sich hohe Schulden nicht mehr leisten können. Es wirkt die „Marktdisziplin“.
Wie riskant ein Kredit an ein Land ist und welche Zinshöhe daraus resultiert, dieses Urteil fällen die Finanzmärkte dann in Eigenregie. Es ist ihnen überlassen, ob ein Land überschuldet ist oder nicht. Der Mechanismus der Finanzspekulation dürfte dazu führen, dass aus einer bloß drohenden Überschuldung eine reale wird. Wie bei Griechenland: 2009 wurden die Märkte nervös, zweifelten die Kreditwürdigkeit des Landes an, sodass die Zinsen stiegen, die sich Athen nicht mehr leisten konnte – das Land war pleite. „Marktreaktionen, wenn sie erst mal einsetzen, können so zerstörerisch ausfallen, dass es Staaten nicht mehr möglich ist, angemessen darauf zu reagieren“, so der Ökonom Peter Bofinger.
Das Risiko einer Marktpanik ist zudem in Euroländern besonders groß. Denn für sie würde nach den liberalen Insolvenzplänen keine Zentralbank bereitstehen, die im Notfall für die Staatsschulden garantiert, wie in den USA oder Japan, wo die Notenbanken in der Krise große Teile der Staatsschulden aufgekauft haben und heute die größten Gläubiger ihrer Regierungen sind. Dadurch sind japanische oder US-Anleihen 100 Prozent sicher, was die Stabilität der Finanzsysteme garantiert – anders als in der Eurozone, in der die Zentralbank vergemeinschaftet ist und Gläubigerstaaten misstrauisch darauf achten, dass die EZB nicht arme Staaten aus ihrer Krise herauskauft.
Ohne eine Garantie seiner Schulden durch die Zentralbank oder die anderen Euroländer hängt ein Staat damit allein vom Urteil durch die Finanzmärkte ab, die das Risiko einer Staateninsolvenz nicht nur bewerten, sondern diese herbeiführen. Künftig kann es daher schon reichen, dass in einem Land lediglich das Wachstum nachlässt und die Defizite steigen. Aus Furcht davor, dass die Märkte das Land fallenlassen und dadurch ein Zahlungsausfall droht, steigen Geldgeber aus, sie verlängern ihre Kredite nicht, die Zinsen steigen, was die Lage des Landes verschärft und eine Kapitalflucht auslöst.
Diese permanente Drohung soll nach dem Wunsch der Liberalen die EU-Regierungen bei der Aufnahme von Schulden disziplinieren – aber nicht alle. „Das Risiko tragen die hoch verschuldeten Staaten“, so der italienische Ökonom Guido Tabellini, der darauf hinweist, dass die Idee eines Insolvenzmechanismus nicht zufällig aus Ländern wie Deutschland und Frankreich kommt, die den Euro-Rettungsschirm dominieren.
Das wären die Folgen des Insolvenzregimes: keine Freiheit der Schuldner durch Forderungsverzicht. Stattdessen werden die Regierungen der Eurostaaten vollständig der Logik der Spekulation unterworfen, was die Währungsunion instabiler macht und sie teilt in relativ erfolglose Ökonomien, die hohe Zinsen zahlen müssen, und erfolgreiche, deren Finanzierung stets gesichert ist. Allein schon, weil sie im Krisenfall als Euro-Kapitalfluchtorte fungieren. Die Bundesregierung müsste nicht länger durch politischen Druck Sparhaushalte in anderen Ländern durchsetzen und sich unbeliebt machen. Stattdessen wirkt der Sparzwang als Sachzwang, als quasi-neutrale Notwendigkeit, weil den Euroländern „keine politischen Partner, sondern anonyme Finanzmärkte gegenüberstehen“, so der Sachverständigenrat.
Gegen die Schuldner
Und sollte der Krisenfall doch eintreten und ein Land durch den Euro-Rettungsschirm ESM kreditiert werden müssen, dann gäbe die Insolvenzordnung den Gläubigern ein weiteres starkes Druckmittel in die Hand, ihre Politik in den Schuldnerstaaten durchzusetzen, denn Schuldenschnitte gäbe es nicht umsonst. „Das Verfahren muss zwingend mit einem klaren makroökonomischen Reformprogramm verbunden sein“, so die FDP. Das bedeutet wie bisher: Sparen, Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Schwächung der Gewerkschaften. Und wenn sich ein „geretteter“ Staat gegen die Auflagen wehrt, können die Gläubigerstaaten ihn erpressen. Ohne die Drohung mit einer Insolvenz, so Clemens Fuest vom Münchener Ifo-Institut, „haben die Geldgeber schlechte Karten im Spiel gegen einen reformresistenten Mitgliedstaat“. Im Klartext: Die Insolvenzordnung dient nicht dazu, Schuldner zu entlasten, sondern ist ein Instrument der Gläubiger gegen die Schuldner.
Das Insolvenzregime sortiert also nicht nur die Euroländer strenger in starke und schwache und erhöht die Wahrscheinlichkeit von Krisen – es macht zudem für Krisenländer den Euro-Exit zu einer attraktiven Option. Diese neue Instabilität der Eurozone mag von den Befürwortern einer geregelten Staateninsolvenz durchaus gewollt sein: Wer nicht kreditwürdig ist, hat den Euro nach ihrer Logik nicht verdient und soll raus. Übrig bliebe ein Block von starken, kreditwürdigen Staaten – Kerneuropa eben.
Eine „linke“ Schuldenstreichung zur Befreiung der Armen, so wünschbar sie wäre, ist daher unter den herrschenden Verhältnissen nicht möglich. Auch nach einer Entschuldung wäre ein Land nicht frei, sondern bliebe abhängig von den Investoren, denen es gerade eine Kapitalvernichtung zugemutet hat. Ob die Investoren ihm dann wieder Kredit gewähren, hängt weniger von der Höhe seiner Schulden, sondern an seiner Position im gnadenlosen Wettbewerb der Standorte ab. Die USA haben zwar hohe Schulden, können die sich aber wegen ihrer Stärke leisten. Und Deutschland ist nicht erfolgreich, weil es wenig Schulden macht. Es hat wenig Schulden, weil es so erfolgreich ist.
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