Gehören Sie zur "Mitte"? Nein? Na dann: Herzlichen Glückwunsch! Denn "die Mitte" ist gefährdet. Seit einiger Zeit rangiert sie auf den Listen bedrohter Sozialarten, mit denen hierzulande in der politisch-medialen Öffentlichkeit hantiert wird, ganz weit oben. Ob es nun Beschäftigungsunsicherheiten sind, die sich, ausgehend von den "Rändern" der Gesellschaft, zunehmend auch in deren Zentrum ausbreiten; die Belastungen durch Sozialbeiträge, die weitestgehend von den Mittelschichten getragen werden; oder die "kalte Progression", die deren Lohnsteigerungen sogleich steuerpolitisch aufzufressen droht: Stets wird die gesellschaftliche "Mitte" als erstes Opfer politischer Reformen und sozialen Wandels, als die Melkkuh und der Prügelknabe der Nation dargestellt.
Andererseits: "Die Mitte", das unbekannte Wesen - wer oder was ist das überhaupt? Wer lässt sich dieser Kategorie, jenseits des subjektiven Gefühls, in der gesellschaftlichen Hierarchie irgendwie nicht "oben" zu sein, aber auch nicht "unten" zu stehen, überhaupt zuordnen? Sind es, Gesellschaft vertikal denkend, die nicht gerade schlecht, aber eben auch nicht "Besserverdienenden"? Oder, wenn man Gesellschaft eher in horizontalen Dimensionen sozialer Milieus begreift, diejenigen, die sich weder durch ausgeprägt traditionalistisch-wertkonservative noch durch betont postmodernistisch-libertäre Einstellungs- und Lebensführungsmuster auszeichnen?
Zumeist, so will es scheinen, wird neuerdings von der "Mitte" geredet, wenn der "harte Kern" der Lohnarbeitsgesellschaft angesprochen werden soll. Dann wird die gesellschaftliche Mitte gerne - von "rechts" wie von "links" - als Gesamtheit der "Leistungsträger" unseres Gemeinwesens adressiert. Dann sind diejenigen gemeint, die mit ihrer "ehrlichen Arbeit" tagtäglich "unseren Wohlstand" sichern; die mit ihrer Sorge um den Nachwuchs für die Wahrung der sozialen Ordnung sorgen; und denen diese gesellschaftlichen Leistungen damit gedankt werden, dass "der Staat" sie systematisch und bedenkenlos schröpft: mit immer neuen Steuern und Abgaben einerseits, Kürzungen von der Eigenheimförderung bis zur Pendlerpauschale andererseits.
Früher, in den Zeiten der Bonner Republik, hieß die Mitte im gesellschaftlichen Diskurs zumeist noch "Mittelstand". Heute, wo es nichts mehr Stehendes gibt (oder geben soll), wo sich alles zu bewegen und jeder mobil, dynamisch, flexibel zu sein hat, wird die Rede von der "Mitte" als dem funktionalen Zentrum, dem ruhenden Pol, dem normativen Ankerplatz einer sich beschleunigt verändernden Gesellschaft, von einer soziologischen Zuschreibungs- zu einer sozialen Ausgrenzungskategorie. Sie markiert eine gesellschaftliche Grenzziehung nicht (oder nicht in erster Linie) zwischen "oben" und "unten", sondern zwischen "innen" und "außen". Oder sagen wir es ruhig so normativ wie es politisch gemeint ist: zwischen "gut" und "böse", zwischen nützlichen und nutzlosen Klassen, produktiven und unproduktiven Subjekten, sozialverantwortlichen Mitbürgern und verantwortungslosen Zeitgenossen.
Nicht nur den liberalen Steuersenkungsapologeten aller Parteien, sondern durchaus auch gestandenen Linken und gewerkschaftsnahen Sozialwissenschaftlern gelten die Mitglieder des "leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus" als die Geprellten der Nation. Gefordert wird - zumindest von Letzteren - die Wiederbelebung des guten alten Sozialmodells "Leistung gegen Teilhabe", das als konsensdemokratisches, korporatistisches Fundament des westdeutschen Wiederaufstiegs nach dem Zweiten Weltkrieg weithin in guter Erinnerung zu sein scheint. Jedenfalls denen, die sich und ihre Klientel offensichtlich immer noch eben jener leistungsfähigen Arbeitnehmerschaft zurechnen, die für einige Jahrzehnte die sozialstrukturelle Mittelschicht der alten Bundesrepublik bildete.
Was aber ist mit denen, die sich heute einer so definierten "Mitte" nicht zugehörig fühlen - beziehungsweise nicht zugehörig fühlen dürfen? Die keinen Zugang (mehr) zu den Lebens- und Erfahrungsmilieus stabiler, sozial gesicherter Lohnarbeit finden? Deren Leistungsorientierung nur ab und an gefragt, überhaupt nicht gebraucht oder gar (man denke an Schröders "faule Arbeitslose") pauschal negiert wird? Die Rede von der Mitte, deren Arbeit es zu würdigen und deren Status es zu sichern gelte, ist zugleich Teil einer Abwertungsrhetorik all jenen gegenüber, die - in aller Regel ohne eigenes Verschulden - den Erwerbs-, Aktivitäts- und Sozialstandards eben jener Mitte nicht mehr genügen können. Mit dem Verweis auf die Mitte, ihren gesellschaftlichen Wert und ihre soziale Schutzbedürftigkeit, werden die Dequalifizierten des spätindustriellen Kapitalismus weiter abqualifiziert.
Wir leben in Zeiten der Herrschaft von abstrakten, sozial entleerten Kollektivsingularen im gesellschaftlichen Diskurs - neben allfälligen Verweisen auf "den Standort" oder "die Wirtschaft" und deren Bedarfe gilt dies mittlerweile auch für die Klagen um das Wohl der "Mitte". Keiner weiß, wer Teil der Mitte ist. Jeder wollte, ja (so wird suggeriert) sollte. Aber nicht alle können.
Wie bitte? Sie gehören nicht zur "Mitte"? Na dann: Herzliches Beileid! Denn die Mitte kennt kein Maß.
Stephan Lessenich ist Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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