Alles Bluff

Märchen und Marketing Warum das Hochstapeln zu einer wichtigen Kulturtechnik geworden ist

Runter kommen sie immer. Vor allem kommen sie schlecht drauf, wenn morgens um drei in den Szene-Bars der Internetgemeinde von Projekten die Rede ist, die gerade mal wieder geplatzt sind. Denn seit die Börsenkurse steil nach unten stürzen, ist auch der Psycho-Höhenflug der New Economisten beendet. Übrig bleibt von den grandiosen Plänen oft nicht mehr als heiße Luft. Und der Geruch von Asche: verbranntes Geld in großen Mengen. Tröstlich allein, dass es nur zum kleinen Teil das eigene war.

Bonjour tristesse. Einige werden wegen Betrugs, wegen frisierter Bilanzen und wegen verspäteter Warnungen vor riesigen Verlusten juristische Konsequenzen zu tagen haben. An den anderen wird zumindest ein Etikett hängen bleiben, das es zwar im Bürgerlichen Gesetzbuch nicht gibt, das aber am besten definiert, was man bis zuletzt getrieben hat und gerne noch weiter betreibt: Hochstapelei.

»Die Frankfurter Wachstumsbörse verkommt zum Tummelplatz für Hochstapler und unseriöse Geschäftemacher«, warnte der Spiegel im Frühjahr, als habe man das nicht von Anfang an gewusst. Und als sei nicht von Anfang an behauptet worden, dass Bluffen dazu gehört, wenn man die Kurse richtig in die Höhe treiben will. Am Neuen Markt lässt sich wie an keiner anderen Institution erkennen, welchen Stellenwert die Hochstapelei im kulturellen Gefüge an der Jahrhundertschwelle gewonnen hat.

Seit der großen Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanziger Jahre ist von den Börsen bekannt, dass in der rasanten Geldkultur der Moderne der Schein das Sein bestimmt - und nicht umgekehrt, wie man noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gehofft und gefordert hat.Wer mit abstrakten Kursen handelt und virtuelles Geld weltweit über die elektrischen Kanäle funkt, der weiß, dass die Wirklichkeit immer weniger interessiert. Wichtiger werden die Geschichten, die man sich über die Wirtschaft, die Märkte, die Aktien und ihre Kurse erzählt. Und wichtig werden ihre Inszenierungen durch das Marketing. Der Rest dahinter verdampft. Wenn es überhaupt noch ein »Dahinter« gibt.

»Die Zahlen waren groß, aber sie waren nicht real, und sie änderten mit erstaunlicher Geschwindigkeit ihren Preis.« So hat es Nick Leeson beschrieben, einer der berühmtesten Hochstapler, der die englische Traditionsbank Barings 1995 an der Börse in Singapur mit einem Milliardenschwindel an die Wand gefahren hat. »Es war, als handelte man mit Seifenblasen.«Nick Leeson hat praktiziert, was vielen Start Up-Unternehmern von heute gut bekannt sein dürfte. Je mehr Schulden er machte - im Namen seiner Bank, aber ohne ihr Wissen - um so höher bot er mit. Und um so potenter inszenierte er sich selbst auf dem Parkett. Er wurde zum Broker des Jahres gewählt und den Kollegen als großes Vorbild präsentiert. »Er ist ein Tier«, hieß es im Londoner Hauptsitz. »Er ist wie rasend. Sie sollten sehen, wie er mit dem Markt umspringt. Keiner kann ihm das Wasser reichen.«

Schadenfreude

Als Leeson auf dem Frankfurter Flughafen festgenommen wurde, brüllte er nicht wie ein rasendes Tier, sondern lächelte wie ein Junge, dem ein guter Streich gelungen ist. Die Leute zeigten auf den größten Börsenmakler aller Zeiten und erkannten plötzlich, kaum dass er Handschellen trug, wie nackt er in Wirklichkeit war.

Des Kaisers neue Kleider. Anlässlich des Schwarzen Freitags im November 1929 hat man sich dieselbe Geschichte erzählt. Noch einmal am Schwarzen Montag 1987. Und beim Einbruch des Neuen Marktes dann wieder. Alles Bluff, alles Schwindel, alles hochgestapelt.

Ä t s c h ! Der erste Kulturreflex bei Fällen von Hochstapelei ist Schadenfreude. Die leichtgläubigen Opfer - vom Großverdiener bis zum kleinen Volksaktionär - werden ausgelacht. Und den Betrüger, der die ganze Zeit auf viel zu großem Fuße lebte, will man in grobem Leinen sehen, mit Streifen drauf, bei Wasser und bei Brot.

Doch das ist nur der erste Reflex. Der zweite sieht ganz anders aus.Denn die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert zeigt dass es hier nur vordergründig darum geht, falsche Hierarchien, Regeln und Gesetze bloßzustellen. Der Hauptmann von Köpenick ist heute nicht deshalb bekannt, weil er die wilhelminische Gesellschaft vorgeführt hat, als er mit einer Uniform und ein paar zackigen Bewegungen auf Beutezug gegangen ist. Bekannt ist er, weil er sich schon kurz nach der Festnahme als ausgebuffter Entertainer und Medienprofi ersten Ranges erwiesen hat. Als er aus dem Gefängnis kam, hat er erst recht den virtuellen Hauptmann von Köpenick gespielt - für Zeitungen, für Varietés, für Bücher und für Schallplatten. Alle wollten ihn sehen, hören und berühren. Und so ist er als Held der Nachwelt überliefert, weil er den großen Scheinapparat der Medien so gut bedienen konnte.

Nicht anders der berühmte Harry Domela, der 1927 für kurze zehn Tage den Kronprinzen in Weimar und Erfurt gespielt hat. Die Schadenfreude war groß. Aber noch größer war der Erfolg des falschen Prinzen als Autor seiner Bluff-Geschichte und als Besitzer eines Kinos, in dem er den Film über seine Hochstapelei spielen ließ, in der Harry Domela selbst in die Rolle des Harry Domela schlüpfte, der wiederum den Kronprinzen gab.

Vom Hochstapler lernen

Auch in Domelas Fall gilt: Fasziniert hat nur im ersten Moment die Trick-Story. Gleich danach wurde er als Star inszeniert, der mit seiner Hochstapelei etwas viel Größeres als eine kleine Prinzenimitation zu bieten hatte. Domela war Kultfigur, eine gefeierte Scheinpersönlichkeit, die begriffen hat, nach welchen Regeln die Gesellschaft funktioniert - und die mit diesem Wissen Verluste in Gewinne verwandeln kann. Bei der Hochstapelei geht es vor allem um die mediale Inszenierung von Helden mit Eigenschaften, die dringend braucht, wer mit der Modernisierung der Gesellschaft Schritt halten will.

Der zweite Reflex: vom Hochstapler lernen. In den Geschichten von Harry Domela und vom Schuster Wilhelm Voigt ist eine Bruchlinie zu erkennen, an der die alte Idee vom Hochstapler durch eine neue abgelöst wird, die bis heute ihre Gültigkeit behalten hat. Zuerst lacht man, weil Domela und Voigt etwas zu sein scheinen, was sie eigentlich gar nicht sind. Dann aber lernt man von beiden, wie man mit Hilfe des Scheins das Sein neu definiert. Mit Erfolgsgarantie.

Alle großen Hochstapler des 20. Jahrhunderts sind ihnen darin gefolgt. Und alle großen Hochstapler sind weniger für ihren subversiven Umgang mit Autoritäten bewundert worden als vielmehr für die Orientierung am Schauspiel, für die Ästhetisierung der Oberfläche und für das professionelle Medienmanagement.

Mit der Vervielfältigung ihrer Persönlichkeit haben die Schwindler zum Schein die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft internalisiert, die den Menschen das Spielen verschiedener Rollen abverlangt. Und indem sie sich Reklame und Marketing nutzbar machen, haben sie die Orientierung einer Gesellschaft übernommen, die angesichts der steigenden Komplexität auf unauslotbare Tiefen verzichten muss, um sich an selbst hergestellte Oberflächen zu halten.

Hochstapeln ist damit seit Beginn des 20. Jahrhunderts von einem Instrument der Kulturkritik zu einer veritablen Kulturtechnik geworden. Das Bluffen gehört zur Alltagsorientierung ebenso dazu wie die kernige Inszenierung eines entkernten Selbst. Und der Betrug durch Scheinhaftigkeit wird geduldet, solange er herstellt, was Ökonomen »win-win«-Situationen nennen, Konstellationen, in denen alle Beteiligten profitieren, weil sie sich etwas vorgaukeln und an das Vorgegaukelte glauben. Wahrheit und Wahrhaftigkeit gibt es dabei im eigentlichen Sinn nicht mehr. Und wenn es sie gibt, dann nur noch als Effekt, der sich durch Bluffen und Gaukeln zeitweise herstellen lässt.

Als im Sommer 1999 in Berlin der »Erste Internationale Hochstaplerkongress« stattfand, wurde das auf dadaistische Weise gefeiert. »Wir sind heute zusammengekommen«, rief einer der Organisatoren dem Publikum zu, »um uns in jener Sprache zu verständigen, die des Menschen eigentlichste Ausdrucksform ist: in der Sprache der Hochstapelei, die die Wahrheit ans Licht bringt, indem sie erfindet.«

Der Hochstapler, so wurde festgestellt, ist nicht mehr länger eine Ausnahmeerscheinung. Er ist der Jedermann - und jede Frau - schlechthin. »Von den exponierten und ausgestoßenen Märtyrerhelden, den Hochstaplerfiguren alten Typs, verlagert sich eine der für die Menschwerdung grundlegende Kraft zurück in die Mitte der Gesellschaft.«

Was zynisch gemeint war, hatte seine Wahrheit in der Inszenierung des Neuen Markts und seiner Start-Up-Helden, die zur Zeit des Kongresses noch ihre letzten großen Erfolge feiern durften. Dass sie kurz danach eingebrochen sind, hat die Hochstapler nur für kurze Zeit aus der Mitte wieder an den Rand der Gesellschaft katapultiert, wo sie jetzt als böse Kapitalisten stehen und sich schämen müssen.

Noch überwiegt die Schadenfreude, wo über die Pleiten gesprochen wird. Doch wird es nicht lange dauern, bis der zweite Reflex einsetzt. Der momentane Kursverfall wird die Hochstapelei als Kulturtechnik nicht in Frage stellen. Gerade für das komplexe Marktgeschehen wird sie auch in Zukunft ohne Alternative sein. Es wird nicht lange dauern, bis die Start-Ups wieder am Start sind, bis die Bruchpiloten sich wieder als Heldenflieger ausgeben.

Man darf zuversichtlich sein. Längst trägt man in den jungen Unternehmen nicht mehr Jeans und T-Shirt. Jetzt sind der schwarze Anzug und das dezente Kostüm wieder angesagt, die modische Krawatte und das seidige Tuch. Und statt des Out-of-Bed-Look zählt heute der gerade Scheitel. So sehen die Jungs und Mädchen nach ihrem ersten großen Zusammenbruch plötzlich so aus, wie man sich bisher immer schlechte Hochstapler vorgestellt hat. Nur mit dem Unterschied, dass gerade dieses Outfit scheinhaft garantieren soll, dass man diesmal noch besser, noch schöner und noch höher stapeln wird. Bis zum nächsten Sturzflug.

Der Autor ist Germanist und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin. Von ihm stammen zwei Publikationen zum Thema:

Stephan Porombka (Hg.), Der Falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela, Bostelmann Siebenhaar Verlag, Berlin 2000, 296 S., 29,80 DM

Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert. Bostelmann Siebenhaar Verlag, Berlin 2001, 208 Seiten, 29,80 DM

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