Auf der Autobahn

Alltag Dieter Stockmann sucht im Spessart nach Überresten des Hitler-Straßenbaus. Er will an die Technik erinnern, nicht an die Nazis

Endlich mal ein guter Ort. Mitten im Wald, mitten im Dickicht, ganz versteckt im Unterholz. Einer, der sich hier auskennt, geht geduckt voran und drängt die Äste zur Seite, manchmal dreht er sich um und schaut, ob ich ihm folgen kann und nicht längst verloren gegangen bin. Tatsächlich weiß nur noch er, wo wir uns befinden, wir sind weit vom nächsten Dorf entfernt, die Richtung zur Straße haben wir längst verloren. Wenn die Wildschweine kommen, hat er gesagt, dann muss man laut schreien, wenn sie Junge haben, greifen sie an. Irgendwann bleibt er stehen, hält den einen Arm hoch in die Luft, schaut mich fragend an und zeigt dann auf einen bemoosten Steinklotz, den man eigentlich nur übersehen kann, weil er nicht einmal einen halben Meter aus dem Boden ragt. "Was ist das?"

Das ist die Autobahn der Nazis. Strecke 46, Verbindung Nord-Süd. Wir stehen auf dem Mittelstreifen. In die eine Richtung, mitten durch das Unterholz, geht es nach Würzburg. In der anderen Richtung liegt Fulda. Links und rechts gibt es auf Spurbreite kleine Wälle von Erde, auch die sind bewachsen, aber man kann ein paar Meter weit sehen, wohin sie führen, dann werden sie vom Wald und seiner rauschenden Stille verschluckt.

Das hätten sich die Nazis nicht träumen lassen. Hier hat sich der Wald zurückgeholt, was das Symbol für den Aufbruch aus der Depression und für den Durchbruch in die Einheit der so genannten Volksgemeinschaft sein sollte und was als Autoweg durch den Erlebnispark Deutschland geplant war, mit Ausblicken auf Burgen und Schlösser, Höhen und Täler, Flüsse und Wälder. Jede Schneise eine Furche, mit der das Land urbar gemacht wird für die Ideen und Projekte. "Es muss uns auf solchem Wege gelingen", so hieß es 1943, "die Kluft wieder zu schließen, die ein Jahrhundert der Verirrung zwischen Natur und Technik gerissen hat."

Zumindest hier, wo wir jetzt stehen, haben sich Landschaft und Autobahn gefunden und wirklich verbunden. Hier sind niemals Autos gefahren. Keine Volkswagen, keine Panzer, kein Güterverkehr. Als alles gerodet war, wurden die Bauarbeiten eingestellt, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, das "Menschenmaterial" wurde an anderer Stelle gebraucht, vor allem am "Westwall", wo man mit schweren Blöcken sicherstellen musste, dass niemand freie Fahrt ins Reich hinein hat. Im Wald blieben auf 30 Kilometern Ruinen. Stückwerk, ein paar Brücken, ein paar Pfeiler, Abwasserkanäle, Kilometersteine. Und die Trümmer eines großen Medienspektakels rund um die Phantasien vom Reichsstraßennetz. Über das "Dritte Reich" hinaus ist die Idee geblieben, dass der Bau der Autobahnen zur eigentlichen Leistung Hitlers zählt. Auf die - so sagt man - hätte er sich konzentrieren sollen, anstatt sich im Krieg zu verzetteln.

Mit dem Ende des "Dritten Reichs" ist es schwierig geworden, über die eigentliche Funktion der Reichsautobahnen zu sprechen. Ihr Netz ist eins der paradoxesten und schwierigsten Monumente, das die Nazis hinterlassen haben. Es ist überall und unsichtbar. Es ist geflochten aus den Plänen für die "Straßen des Führers", auf denen man sich heute bewegt, als hätten sie keine Geschichte. Sie scheinen so gar nicht ins Bild der Blut- und Boden-Mythen, vom Germanenkult und des archaischen Rassenwahns zu passen, das lange gestützt wurde, um nicht den irritierenden Zusammenhang zwischen Nazi-Ideologie und Moderne thematisieren zu müssen. Tatsächlich wirkten die deutschen Autostraßen derart modern und zukunftsweisend, dass amerikanische und englische Politiker, Journalisten und Ingenieure nach Deutschland kamen, um den rasanten Aufbau der Fahrstrecken zu bewundern.

Acht Monate nach der "Machtergreifung" hatte Hitler in großer Inszenierung den ersten Spatenstich gesetzt, um den Bau der Strecke zwischen Frankfurt und Darmstadt offiziell beginnen zu lassen. An diesem Punkt wurde noch im gleichen Jahr ein Denkmal errichtet, 1938 stellte das Deutsche Museum in München eine Nachbildung des Spatens aus, mit dem Hitler geschaufelt hatte. Er ist heute genau so spurlos verschwunden wie der einst markierte Ursprungspunkt. Der liegt heute bei Frankfurt an einer Brücke unter Beton, gut versiegelt und unsichtbar für die, die an ihm vorüber fahren. Erinnerung gibt es hier nicht.

20.000 Kilometer Autobahn waren zwischenzeitlich geplant. Als der Bau drei Jahre nach Kriegsbeginn endgültig eingestellt wurde, war knapp ein Fünftel davon fertiggestellt. Dieter Stockmann, der heute wie ein Archäologe durch den Spessart streift, um die letzten Spuren dieses Unternehmens zu sichern, ist ein Autodidakt in Sachen Autobahn. Hauptberuflich arbeitet er beim Naturpark Spessart. Aber wann immer er kann, schultert er seinen Rucksack, packt Brote und Tee ein, einen Zollstock und eine Kamera, setzt eine Wollmütze auf und begibt sich auf die Suche. Eine Flucht in die Ruhe. Und ins gleichschwebende Grübeln über die Vergangenheit. Entdeckt hat er die Streckenreste schon als Kind, zu Beginn der sechziger Jahre. "Da hat der Hitler eine Autobahn bauen wollen." Das war die kurze Antwort auf seine Frage, was das für Erdhaufen am Waldrand seien, warum es Brücken zwischen den Bäumen gebe, über die niemals jemand fuhr, und warum sich Kilometersteine finden ließen, die einen Weg durchs Nichts zu zählen hatten. Heute gelten sie für Stockmann als Dokumente des Fortschritts. Wer etwas über den Straßenbau lernen will, sagt er, der kann das hier tun, mit seiner Hilfe, unter seiner Führung, mitten durch das Unterholz.

Hitler hat die Baustellen an dieser Strecke selbst nie besucht. Überhaupt sei keiner der Großen je vor Ort gewesen, kein "Goldfasan", sagt Stockmann. Darüber ist er froh, weil es sonst "fürchterlich politische Diskussionen" geben könnte, "noch mehr Diskussionen". Mit der Genauigkeit des Beamten hat er alles dokumentiert. Er hat alles archiviert. Manches hat er schon eigenhändig restauriert. Und in einer eigenen Arbeit hat er alles ausführlich zu einem großen Puzzle zusammengesetzt. Fast scheint es, als würde die Strecke 46 ohne Stockmann gar nicht existieren. Dass sie heute als "beredter Zeuge des frühen Autobahnbaus" unter dem Schutz des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege steht, ist allein sein Verdienst.

Dass die Strecke 46 nach dem Ende des Krieges nicht weitergebaut wurde, hatte keine ideologischen Gründe, sondern technische und geographische. Die Steigungen waren für den modernen Lastverkehr zu groß, auch gab es plötzlich eine innerdeutsche Grenze, über die der Fernverkehr in Richtung Eisenach nicht mehr geführt werden konnte. Ansonsten aber übernahm die Bundesrepublik die Autobahnen als Erbe des "Dritten Reiches". So wurden die "Straßen des Führers" kontinuierlich weitergebaut, sie wurden Stück für Stück korrigiert, überformt und ideologisch aufgeladen als Zeichen eines erneuten Aufbruchs, diesmal als Gegenprogramm zum Hitlerstaat in Richtung Wirtschaftswunder, Wohlstand und Westbindung. Dieter Stockmann sieht mit Sorge, dass mit der Renovierung der Autobahnen in der ehemaligen DDR gerade die letzten funktionstüchtigen Überbleibsel der alten Strecken weggehämmert und planiert werden. Die von ihm gegründete Arbeitsgemeinschaft Autobahngeschichte hat nicht einmal den Versuch gemacht zu intervenieren. "Zwecklos", sagt Stockmann, "wir haben keine Lobby". Also konzentriert er sich mit den Vereinsfreunden vor allem auf die Ruine im Spessart.

Ginge es nach ihm, dann wäre aus der Strecke längst ein Lehrpfad geworden, auf dem er vor allem junge Menschen mit der grandiosen Technik und der alltäglichen Härte des frühen Straßenbaus bekannt machen könnte. Vor allem mit der Technik. Mit dem nationalsozialistischen Macht- und Terrorsystem aber nicht unbedingt. Gerade diesen Zusammenhang will Stockmann nicht in den Vordergrund stellen. Weil er aufklären will. Das Technische will er vom Politischen lösen, um der Erinnerung an die Naziherrschaft eben das nicht in die Hände zu spielen, was immer noch als gute Idee und gelungene Leistung gilt. "Die Nazis haben die Autobahn nicht erfunden", sagt er und verweist auf die Jahre vor 1933, in denen nicht nur in Italien die ersten "Nur-Autostraßen" ausgebaut worden waren. In Deutschland wurden Vereine gegründet und die ersten Pläne gezeichnet. Auch wurde schon 1929 der Bau des ersten deutschen Streckenabschnitts einer so genannten Kraftfahrbahn zwischen Köln und Düsseldorf begonnen.

Nach dem 30. Januar 1933 rissen die Nationalsozialisten, die noch in den Jahren zuvor gegen jeden Bau protestiert hatten, das Unternehmen an sich. Sie gaben ihm eine romantische Färbung, monumentalisierten das Projekt und trieben es mit aller Macht voran. Die Autobahnen sollten wie die Pyramiden sein, die das Reich der Nachwelt als Monument überlässt. Dass Hitler die Autobahn noch in seiner Haft in Landsberg erfunden und später in einer quasi-genialen Skizze aufs Papier geworfen habe, war die dazugehörige Mythe, mit der die profanen Straßenbauarbeiten in Propagandabroschüren veredelt werden sollte, "da schlug er auch die Karte unseres Vaterlandes auf seinen Knien auseinander und dachte in sie hinein seine Reichsautobahnen: so werden sie laufen!"

Stockmann winkt ab. Er hat das zu oft gehört. Und zu oft gehört hat er auch die Legende von den neuen Arbeitsplätzen. "Stimmt ja alles nicht." Auf dem Arbeitsmarkt machten sich die Neueinstellungen kaum bemerkbar. Bemerkbar machte sich für die Arbeiter nur, dass sie zur Selbstaufgabe verpflichtet waren. "Hunger- und Elendsbahn" hießen die Strecken schnell bei denen, die 16 Stunden arbeiteten, zuweilen mehr als 100 Kilometer zur Arbeit und zurück gefahren wurden, schlecht verpflegt und untergebracht waren und dafür einen Niedriglohn bekamen, mit dem sich kaum eine Familie ernähren ließ.

Dieter Stockmann zuckt mit den Schultern. "Da kann man aber machen, was man will. Manche glauben trotzdem noch, dass Hitler die Autobahn erfunden und Arbeitsplätze geschaffen hat." So lange das so ist, so lange scheint ihm der Weg zur eigentlichen Ingenieursleistung der Straßenbauer verstellt. Und so lange bemüht sich Stockmann, die Autobahn nicht mit den Nazis in Verbindung zu bringen. Es ist, als müsste er die ganzen 30 Kilometer der Strecke mühsam von den Vorstellungen über die Vergangenheit frei halten, um den guten Ort zu schützen, den man begehen kann, um etwas über den Bau großer Straßen zu lernen.


Gelungen ist ihm das bisher nicht. Im Gegenteil. Der Ort, den Stockmann mitten im Wald entdeckt hat, ist dämonischer aufgeladen, als er ahnte. Als er 1997 vom Naturpark den Auftrag bekam, zur Steigerung der Attraktivität des Spessarts das Marketingpotential der Strecke 46 zu prüfen, da stieß er in der Umgebung auf eisiges Schweigen. Die Gemeinden, auf deren Gebiet sich die Überreste der Strecke 46 verteilen, stellten sich stur. Unter der Hand ließen ihn die Politiker der Kommune wissen, er solle die Toten ruhen lassen. Man wisse von nichts. Man wolle auch nichts wissen. Es gebe keine Dokumente. Woher die Ruinen im Wald stammten, sei unbekannt. Nachzufragen sei sinnlos. Man wolle nicht, dass die Neonazis kommen und durch den Wald streifen. Dass er ein Nestbeschmutzer sei, hat man Dieter Stockmann nicht gesagt. "Aber so wurde ich behandelt." Doch Stockmann ließ nicht locker. Er stoppte seine Forschungen auch nicht, als nach einem Jahr der Naturpark das ganze Unternehmen mit einem kurzen Aktenvermerk erledigen wollte. Kein Lehrpfad, keine Touristen, keine Neonazis. Die Strecke 46 sollte nicht einmal mehr erwähnt werden. Gegen den Willen der Gemeinden, so ließ man Stockmann wissen, ließe sich gar nichts bewegen. Die Toten sollten ruhen.

Stockmann suchte weiter. Auf eigene Verantwortung, auf eigene Kosten, nach Feierabend und an Wochenenden. Er suchte nach den Überlebenden, die noch am Bau der Autobahn mitgewirkt hatten und in der Gegend geblieben waren. Er fand sie. "Die waren froh, dass endlich einer fragt." Und noch bevor die letzten Zeitzeugen starben, zeichnete er die Gespräche mit einem Kassettenrecorder auf und archivierte ihre Fotos und Erinnerungen. Heute gibt es kaum noch einen, der ihm weiterhelfen kann. Er ist angewiesen auf die zeitgenössischen Unterlagen vom Bau der Straße. Doch wurden die fast alle vernichtet, kurz bevor Stockmann Einsicht nehmen konnte. Was übrig blieb, wurde ihm heimlich zugespielt. Anonym und per Post. Oder durch eine geheime Rettungsaktion durch die Mitarbeiter einer Papiermühle, in der mit offiziellem Auftrag ein ganzes Archiv mit wichtigen Dokumenten zermahlen werden sollte, um es nicht in die falschen Hände geraten zu lassen.

So ist Stockmann nicht nur zum Archäologen geworden. Er ist auch ein Detektiv, der die Geschichte der Strecke 46 Stück für Stück zusammensetzt, um sie erzählen zu können. Er hat die Beweise auf seiner Seite, weil es fast keinen Stein auf dieser Strecke gibt, den er nicht genommen und umgedreht hat und der nicht zum Satzzeichen in seiner Geschichte geworden ist. Doch weil er sie auch vor Ort durchsetzen will, muss die Geschichte, die er auf dem Weg durch das Unterholz erzählt, so weit wie möglich ohne Politik auskommen. "Das mit dem Politischen ist vertrackt, man kann das alles nicht erklären, ohne dauernd missverstanden zu werden."

Der Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem Buch Böse Orte. Stätten nationalistischer Selbstdarstellung - heute (hrsg. von Stephan Porombka und Hilmar Schnundt) das Ende März im Claassen-Verlag erscheint. Der Band konzentriert sich auf jene Orte, die im offiziellen Erinnern nicht vorkommen, er enthält Beiträge von Henryk M. Broder, Peter Glaser, Annett Gröschner, Jan Simon u.a.


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