Über Beckett-Figuren-Enkelkinder

Diederichsen im Hau Erinnerungen an eine Veranstaltung im Hau mit Diedrich Diederichsen und Rene Pollesch – inklusive imaginiertem Atem der Moderatorin und einer Skizze der Bühnensituation

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"Ein schlaff im Stuhl hängender Pollesch, ein lesender DD und eine Moderatorin, die sich an ihrem rechten Ohr herum nestelt, sichtbar"
"Ein schlaff im Stuhl hängender Pollesch, ein lesender DD und eine Moderatorin, die sich an ihrem rechten Ohr herum nestelt, sichtbar"

Zeichnung: Tine Fetz

Tine sagt Kackveranstaltung! Die Moderatorin, die, sagt Johnny, sonst ganz gut sein soll, ist heute von der Rolle. Ihre Fragen sind wie Querschläger, sie verfehlen die Zielperson und den Gegenstand. DD und Pollesch sind ihnen schutzlos ausgeliefert. Johnny, die in der Hau-Loge residiert, sagt, die Moderatorin habe zwischendurch die ganze Zeit lautstark ins Mikrofon geatmet. Wahrscheinlich aus Nervosität, glaubt sie. Tine und ich haben das laute Atmen knapp unter der Hau-Decke nicht mehr gehört.

Der Diskussions-Einstieg ist merkwürdig und irgendwie „Hä?“. Er geht ungefähr so: "Komisch, dass so Viele gekommen sind!" Die Moderatorin nestelt sich fortwährend nervös am Ohr herum, DD schaut auf den Bühnenboden. Die Moderatorin klammert sich im weiteren Verlauf an eine einzige Frage wie an einen Rettungsanker, wie man so sagt, und variiert diese immer von neuem. DD bleibt aber ruhig und unternimmt zahllose Versuche, die Frage in kunstvoll verschachtelten Sätzen und mit coolen Wörtern zu beantworten.

Die Frage lautet: Wieso ist Popmusik mehr als Musik? Pollesch weiß das nicht. Er hat das Buch fast gar nicht gelesen. Seine Begründung klingt einleuchtend: Er hasst Reading-Deadlines. Ich stelle mir vor, wie das klotzige DD-Buch seinen Nachttisch blockiert und ihm wochenlang schlechte Laune bereitet hat. In der Schule habe ich Reading-Deadlines auch gehasst, sagt Tine, die neben mir sitzt. Ich stimme ihr zu, ich hasste die auch und habe deswegen keine Schullektüre gelesen.

Pollesch berichtet jetzt von einer Regieassistentin, der bei einem Gastspiel in Stuttgart aufgefallen war, dass die Pollesch-Bühne nicht so hingerotzt wirkte wie sonst im Prater. Pollesch: „Da erkannte ich, dass wir vollkommen unterschiedliche Sichtweisen haben.“ Nach Pollesch gründete die Differenz zwischen Beiden darin, dass die Assistentin im Unterschied zu ihm nicht popsozialisiert war. (Später muss Pollesch zugeben, anders als DD mit sieben Jahren statt Popmusik deutsche Schlager gehört zu haben). Von DD ist unter der Decke nur ein gequältes Lachen zu hören. DD und Tine fragen sich bestimmt: Was will uns Pollesch mit seiner Anekdote sagen.

Die Moderatorin schreitet schließlich doch einen thematischen Schritt voran und kommt auf das Punktum bei Barthes zu sprechen. Pollesch sagt ungefähr: „Ich habe die ‚Helle Kammer‘ in der Uni gelesen, aber leider schon vergessen, was Barthes genau darin theoretisiert." Mir selbst geht es ähnlich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit atmet die Moderatorin in diesem Moment besonders schwer. Unter der Hau-Decke können Tine und ich das aber nicht hören.

In der Loge beobachtet Johnny, wie Goetz, der alles mitschreibt, noch wilder als zuvor, wie in Ekstase, in sein Notizbuch zu kritzeln beginnt. Seine Schreibbewegungen werden so eckig und ausladend, das sein Sitznachbar in Deckung geht. Neben mir beginnt Tine zu zeichnen. Ihre Zeichnen-Bewegungen sind eher laid-back. Sie skizziert die Bühnensituation. Auf dem Hau-Veranstaltungsticket wird ein schlaff im Stuhl hängender Pollesch, ein lesender DD und eine Moderatorin, die sich an ihrem rechten Ohr herum nestelt, sichtbar.

Jetzt sagt DD, dass Popmusik von den Söhnen und Töchtern und Enkeln von Beckett-Figuren erfunden worden sein muss. Pollesch wirft zu Recht ein, dass Beckett- Figuren mit hoher Wahrscheinlichkeit zeugungsunfähig seien – im Großen und Ganzen stimme er aber zu, was DD’s Wissen über die Erfindung der Popmusik beträfe. Die Moderatorin atmet jetzt wahrscheinlich noch schwerer. Tine stellt fest, dass Pollesch auf der Bühne wirkt, als sei er ein Nachkomme einer Beckett-Figur. Als ihm ein Zuschauer die Frage stellt, ob er das DD-Buch noch zu lesen gedenke, stellt er sich einfach taub. An der Bar gestikuliert Goetz später wild. Jens Friebe schweigt und trinkt ein Bier.

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Tine Fetz, Zeichnung
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