Als das letzte Mal ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat im Wahlkampf nach Berlin kam, stand die Stadt still. Im Tiergarten wurden die Straßen gesperrt, der Secret Service schirmte einen Teil des Adlon ab wie einen Hochsicherheitstrakt – und 200.000 Menschen pilgerten an die Siegessäule, um eine politische Rede zu hören. Unzählige Fernsehstationen übertrugen Barack Obamas Ansprache im Juli 2008 in alle Welt.
Im aktuellen US-Wahlkampf hat es wieder einen Präsidentschaftskandidaten nach Berlin verschlagen. Aber für Jerome „Jerry“ White sperrt niemand Straßen. Er spricht auch nicht an der Siegessäule. Der Präsidentschaftskandidat der Socialist Equality Party (SEP) muss sich mit einem Hörsaal in der Humboldt-Universität begnügen. Die trotzkistische SEP tritt für die „internationale Einheit der Arbeiter und für den Sozialismus“ ein. White selbst stammt aus einer Arbeiterfamilie aus Queens, New York, und engagiert sich seit seiner Jugend in sozialistischen Bewegungen. 1996 war er schon einmal Präsidentschaftskandidat der SEP. Damals bekam er 2.400 Stimmen von 96 Millionen abgegebenen, Bill Clinton gewann die Wahl mit 47 Millionen Stimmen.
Dementsprechend überschaubar ist auch der Saal, den die Organisatoren für Whites Vortrag an diesem Samstag gemietet haben. Und es ist nicht gerade der repräsentativste. In den Holzpulten haben sich Generationen von Studierenden mit Zirkelspitzen verewigt. Wegen eines Wasserschadens wirft die Farbe an den Wänden Blasen. White gibt sich unbeeindruckt. Er gefällt sich in der Rolle des Politikers, der die Ärmel hochkrempelt und gern mal ein Bier mit seinen Wählern trinkt. Jetzt sitzen ihm allerdings keine Arbeiter gegenüber, sondern vor allem Studierende und Senioren.
Anti-Wahlkampf-Performance
Wer von einem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten eine große Show erwartet hat, ist falsch bei Jerry White. Es gibt keine patriotischen Stars-and-Stripes-Dekorationen, keine Fans, die mit „Vote-Jerry“-Schildern wedeln. Whites Wahlkampfansprache an die Berliner ist eher eine Art Anti-Wahlkampf Performance.
Und auch der größte Teil von Whites zweistündiger Ansprache ist nicht die Darstellung eines Wahlprogramms. Es gibt keinen Fünf-Punkte-Plan, wie er Amerika umkrempeln will, sondern einen Bericht über den Status Quo in den USA: Arbeitslosigkeit, Lohndumping, die Schere zwischen Arm und Reich, die immer größer wird. Er erzählt von Arbeitern, die statt 28 Dollar pro Stunde nur noch 12 bekommen. Besonders empört sich White darüber, dass sich die Situation für die Arbeiter während der Obamas Amtszeit noch verschlechtert hat.
Während die ersten Besucher versuchen, unauffällig den Saal zu verlassen, kommt White erst richtig in Fahrt. Er zieht sein Jackett aus und gestikuliert eifrig. Mit seinem kurzärmeligen Hemd und der korrekt gebundenen Kravatte sieht er aus wie der Baseball-Trainer eines College-Teams, der seine Mannschaft zu Höchstleistungen anspornen will.
Während draußen vor dem Uni-Gebäude auf der Straße Unter den Linden Touristen auf Elektrorollern und Junggesellen-Abschiede auf Bierbikes vorüberrollen, scheint drinnen die Zeit stehengeblieben. Für den Trotzkisten White gibt es einzig die Klasse als Kategorie. Sein Bericht über die aktuelle Lage könnte auch aus der Zeit der Großen Depression stammen: Arbeiter in Ohio, Wisconsin und Michigan, sehen sich konfrontiert mit Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen und Gewerkschaften, die nicht ihre Interessen vertreten. Whites Rede erzählt von Verteilungskämpfen in einer Industriegesellschaft, in der noch nicht alle Konsumgüter in China produziert werden.
Dass nicht mehr nur die Arbeiterklasse in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeitet, dass Menschen auch aufgrund anderer Kategorien als Klassenherkunft benachteiligt werden, das alles spielt hier keine Rolle. Wer aus Whites Vortrag gedanklich aussteigt, kann nach zehn Minuten wieder problemlos in die Argumentation zurückfinden.
Schließlich kommt er doch auf die Situation von Studierenden in den USA sowie in Europa zu sprechen: Dass viele von ihnen nach ihrem Studium hoch verschuldet sind und keinen Job finden, hat er erkannt. Dass sie damit eine neue Art Prekariat bilden, das seiner Vorstellung einer internationalen revolutionären Klasse ziemlich nahekommt, geht im restlichen Vortrag unter.
Für Spaltungen bekannt
Dann gibt es Fragen aus dem Publikum: Warum die Occupy-Bewegung gescheitert ist? Ganz klar: Weil sie sich nicht mit den Arbeitern zusammengeschlossen hat. Die eigenen Fehler nimmt man bei anderen eben immer deutlicher wahr – Whites SEP ist als Mitglied der vierten Internationalen schließlich eher für Spaltungen als für Zusammenschlüsse bekannt.
Erst auf Nachfrage berichtet der Kandidat über das Wahlkampfprogramm der SEP: Jeder soll das Recht auf einen fairen Lohn haben, auf eine Wohnung, auf Bildung und Freizeit. Wie er die Rechte garantieren und das Programm konkret umsetzen will, sagt White nicht.
Warum macht der Mann das überhaupt? Will er diesmal 3.000 Stimmen erreichen? „Wir nutzen den Wahlkampf um international politisches Bewusstsein zu wecken“, sagt White. „Und wir wissen auch, dass nationale Programme nichts bringen. Wir brauchen eine internationale Bewegung.“ Kein Wunder, dass er an den US-Gewerkschaften verzweifelt, die ihre Arbeiter oft durch Schutzzölle abschirmen wollen.
Am Ende blitzt noch kurz das Pathos auf, das zu einem Präsidentschaftswahlkampf einfach dazugehört: Auf die Frage, ob er bei seinem sozialistischen Programm in den USA nicht um sein Leben fürchte, berichtet White stolz, wie gut er in der amerikanischen Arbeiterklasse verwurzelt sei. Bei einer Veranstaltung in Illinois hätte ein Arbeiter ihm gesagt: "I would gladly take a bullet for you, man!" – Ich würde gern eine Kugel für dich abfangen, Mann! Ein Satz wie aus einem Hollywoodfilm. Amerikanischer Präsidentschaftswahlkampf ist eben immer ganz großes Kino.
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