Adorno schrieb nicht für die Bahamas

Frankfurter Schule "Adorno war nicht in der Antifa", schreibt die FAZ und verteidigt den Frankfurter vor der linken Vereinnahmung durch einen Nachdruck seines Vortrags. Zu Recht?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Adorno schrieb nicht für die Bahamas

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Karl Marx, einer der Ahnherren der Kritischen Theorie, unternahm 1845 einen Versuch, Friedrich Lists „nationales System der politischen Ökonomie“ zu kritisieren. Er blieb unvollendet und bis fast 90 Jahre nach seinem Tod auch unveröffentlicht. Als die Hohepriester des Marxismus-Leninismus den Text zunächst in Moskau, dann in der DDR doch herausbrachten, mussten sie erklären, warum Marx gegen nationale Versuche, vom Weltmarkt abgeschirmt industrielle Entwicklung nachzuholen anschrieb und unter anderem die Möglichkeit, in einzelnen Nationalstaaten eine „freie, menschliche, gesellschaftliche Arbeit ohne Privateigentum“ zu organisieren ausdrücklich verwarf. Der 27jährige Publizist, der sich während seiner Zeit im Brüsseler Exil vornehmlich mit Hess und Engels an Junghegelianern abarbeitete und die ihm zeitgenössische politische Ökonomie noch gar nicht vollumfänglich rezipiert hatte, konnte natürlich nicht ahnen, dass er mit diesem halbgaren Entwurf 130 Jahre später in einer Weltgegend, in der jede seiner Überlegungen einem Orakel gleichgestellt wurde, wichtige Professoren in große Erklärungsnöte bringen könnte. Jedenfalls wurde das Fragment nicht in die MEW aufgenommen und die wissenschaftlichen Kommunisten des Ostens taten etwas Ungewöhnliches: sie bescheinigten dem großen Marx hier einfach eine vergleichsweise niedrige Erkenntnisstufe. Hatte noch keine Ahnung und schrieb deshalb dummes Zeug, quasi.

Marx‘ Zeitgenosse, Fjodor Dostojewski, beschrieb in einem Kapitel seiner „Brüder Karamasow“ eine ähnliche Angelegenheit: Im katholischen Spanien auf dem Höhepunkt der Ketzerverfolgung kommt Jesus Christus wieder, wirkt Wunder, heilt Kranke, hält Predigten. Der Großinquisitor lässt Jesus verhaften, kritisiert ihn dafür, der Kirche ins Handwerk zu pfuschen und kündigt ihm an, ihn als Ketzer verbrennen zu lassen. Denn was ist dümmer für den politischen Hüter des intellektuellen Erbes, als dass sich der Erblasser aus seinem Grabe zu Wort meldet und öffentlichkeitswirksam irgendwas absondert, was gar nicht in das System der Zitate und Kalendersprüche passt, mit dem der Erbe und Stellvertreter seinen eigenen Glossen, Interventionen und Programmen Autorität verleiht?

Jemand, der als ein Adept der Kritischen Theorie einem Wiglaf Droste für dessen Angriff auf die Weihnachtsmärkte einen „linksdeutschen Gefühlsjihadismus“ bescheinigt hatte und in einem aktuellen Text darüber lamentiert, dass die Nutzung der Abtreibung zu eugenischen Zwecken gesellschaftlich verpönt sei, während der Schutz des lebenswerten Lebens schon wieder als Rechts diffamiert werde, legt natürlich Wert darauf, dass Adorno auf gar keinen Fall in der Antifa gewesen ist. Dazu will gezeigt sein, dass das, was der Meister schrieb, heute einfach nicht mehr aktuell ist. Es ist ja ein ganz anderes Deutschland, so die These. Kein allzu schwieriges Unterfangen, würde man meinen.

Leider gewinnt man von der Lektüre des Artikels von Dr. Klaue nicht unbedingt den Eindruck, dass er mit dem neu erschienen Text von Adornos Vortrag wirklich vertraut ist. Die beiden Stellen, in denen Klaue darauf eingeht, was Adorno überhaupt schreibt (der alte Vortrag von 1959 und die Konzentrationstendenz des Kapitals), befinden sich zufälligerweise auf den ersten beiden Seiten der Neuerscheinung. Wüsste man nicht, dass man es bei dem Autor mit einem gründlich arbeitenden Ideologiekritiker zu tun hat, könnte der Verdacht entstehen, er sei im dünnen Heftchen mit der riesigen Schriftart auch gar nicht weiter vorgedrungen. Dass er mit dem Text aus seiner früheren wissenschaftlichen Arbeit vertraut wäre, ist leider eher abwegig – irgendwelche Audioaufzeichnungen hat man in den Lesekreisen der Neunziger und Nullerjahre sich nun wirklich nicht gegeben.

Nimmt man sich hingegen die Viertelstunde Zeit und blättert den Text des leicht verdaulichen Vortrags einmal durch, findet man erstaunt, dass Adorno sich mit all den Aspekten, die Klaue damals für gegeben, heute für verschwunden befindet, gar nicht groß befasst. Über die Westbindung und die Ressentiments dagegen sagt Adorno im Grunde nichts, wohl aber über die Angst, im „großen Block“ der EWG (der Vorgängerin der EU) die eigenen Interessen nicht wirklich gut vertreten zu sehen. Jemand, der politologisch nicht den Durchblick eines Klaue hat, könnte meinen, der AfD wie auch den anderen europäischen Rechtspopulisten sei die Kritik der EU allgemein tatsächlich ein Anliegen – wobei sie ihre Interessen vornehmlich durch die Reisefreiheit und die gemeinsame Währung bedroht sehen, ganz unabhängig von der objektiven Stellung Deutschlands an der Spitze der EU. In der Tat ist man als Leser vielmehr erstaunt, dass Adorno bei den Rechtsradikalen auch damals schon die Angst vor dem Aufgehen in einer supranationalen Entität treffsicher diagnostiziert hatte.

Dass die Rechtsradikalen den Freien Westen, die USA und Israel also, als „Kolonialmächte“ hassen würden und dass der Nationalsozialismus deswegen in der Rechten und der Linken weiterlebe, schrieb Adorno nicht. Im Gegenteil, mit der Person des Kongo-Müllers illustriert Adorno, wie offenkundige Faschisten über die Brücke des Antikommunismus zu Kämpfern für „Demokratie“ würden. Dass der Kommunismus, wie Adorno hier schreibt, zum „Gummibegriff“ für „alles, was einem irgendwie nicht passt“ genommen wird, ist auch damals schon keine deutsche, sondern eine allgemeinwestliche Eigenschaft gewesen. Das ist auch auf seine Art zeitlos und damit tatsächlich auch heute noch aktuell, nur dass die „linksgrüne Ideologie“ den Platz des verstaubten Kommunismus einnimmt. Dass die Rechtsradikalen ihr auch heute noch so gegensätzliche Angelegenheiten wie sowohl den Einsatz für LGBTIQ-Rechte, als auch den Salafismus zurechnen und mit offenkundig absurdem wie irgendwelchen Umvolkungsplänen ergänzen, erscheint wie aus Adornos Vortrag abgeschrieben, ohne dass Adorno LGBTIQ hätte explizit erwähnen müssen.

Überhaupt war Adorno auch gar nicht so ein großer Freund von Äquidistanz zu Links und Rechts wie Konrad Adenauer oder Magnus Klaue. Mit KD Wolff, dem Vorsitzenden des SDS und dem Rädelsführer der Studenten, die den Vortrag des israelischen Botschafters an der Frankfurter Universität torpediert hatten, hatte Adorno wöchentlich gefrühstückt. Regelmäßige Treffen mit NPD-Funktionären sind hingegen nicht überliefert. Hans-Jürgen Krahl war nicht etwa Objekt von Adornos schärfster Kritik, sondern sein Doktorand. Dass Adorno den hier besprochenen Vortrag bei den Sozialistischen Studenten Österreichs hält, könnte im übrigen gut erklären, warum Klaue über die „Konzentration des Kapitals“ stolpert, die ihn „an die Weimarer Republik“ erinnert – als das Institut für Sozialforschung noch unverblümt marxistisch agierte – und nicht an jene Zeit, in der man in der Neuausgabe der DDA die ganzen marxistischen Termini rausnahm. Adorno spricht hier eben vor einem bestimmten Publikum und will auch gar nicht, dass man den Vortrag verschriftlicht. Die weitere Ausführung dieser ökonomischen Überlegungen vor allem auch bezüglich der grassierenden Furcht vor dem Überflüssigwerden eines Großteils der unqualifizierten Arbeiter im Zuge der kommenden Automatisierung liest sich aber dennoch als etwas, was 50 Jahre nach dem Vortrag deutlich aktueller und virulenter erscheint als seinerzeit.

Geradezu bizarr und thematisch völlig vorbei an der Sache ist, zu guter Letzt, die in Klaues Beschreibung des von Adorno kritisierten „Zeitkerns“ versteckte Liebeserklärung an Konrad Adenauer. „Adenauerzeit“ ist und bleibt das deutsche Traumland, das mit dem Dritten Reich schon abgeschlossen hat, aber noch nicht von den ganzen Linken anno 1968 kaputtgemacht wurde, was auch Adornos armes Herz nicht ertrug. Selbst die „Sympathie der CDU gegenüber Israel“ sei „nicht nur strategisch begründet“ gewesen. Hans Globke hat das Wiedergutmachungsabkommen aus Liebe und Läuterung auf den Weg gebracht und alles wäre gut geblieben, wenn nicht Kiesinger eine Große Koalition mit der SPD eingegangen wäre, was nur ein ehemaliges Mitglied der NSDAP tun kann. Adenauer hingegen, Kiesingers Bundesbruder aus der Askania, war schon damals Deutschlands archetypischer Opa, der „kein Nazi, sondern nur konservativ“ gewesen ist und seinen allzeitigen Opportunismus als Widerstand zu verkaufen suchte. Den Unterschied zwischen seiner und Kiesingers CDU ist selbst für große Bewunderer Adenauers schwer auszumachen.

Der Autor dieser Zeilen ist kein Doktor für Kritische Theorie, aber der Adorno, den allerlei Ideologiekritiker mit Rechtsdrall so schätzen ist auch offenbar ein anderer als der, der einem unbefangenen Leser seiner Schriften begegnet. Letzterer ist sicherlich nicht orthodox marxistisch, sicherlich auf seine Art konservativ, doch macht er auf keinen Fall den Eindruck eines Menschen, der die klare Distanz der Christ- und Sozialdemokraten zur NPD als „Staatsantifa“ bezeichnet gehabt hätte, oder sich überhaupt allzu sehr dagegen gewehrt hätte, als Antifaschist zu gelten. Will uns Dr. Klaue vom Gegenteil überzeugen, würden Argumente helfen, so wie es eben auch hilft, einen Text zu kennen, wenn man ihm bescheinigen möchte, nicht mehr in die heutige Zeit zu passen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Anton Stortchilov

Ein Linker aus Hessen.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden