In Deutschland darf jeder Antisemitismus anprangern, wenn er ihn sieht oder zu sehen meint. Hubert Aiwanger zum Beispiel darf ohne weiteres den importierten Antisemitismus beklagen. Man darf nicht jedermann Antisemit nennen, denn das ist ehrabschneidend. Gerichte haben da in Vergangenheit zum Beispiel Xavier Naidoo (gegen Amadeu-Antonio-Stiftung) und Jürgen Elsässer (gegen Jutta Ditfurth) zu ihrem Recht verholfen. Auch Juden (wie Henryk M. Broder vor seinen Bussis mit der AfD) dürfen nicht einfach so Leute als Antisemiten bezeichnen, wie Gerichte in diversen Verfahren festgestellt haben. Aber abstrakt über Antisemitismus sprechen, dafür braucht es keinen jüdischen Sprechort.
Wofür es den Sprechort braucht, ist, wenn einer nachts um drei im Vereinsheim nach der n-ten Runde Schnaps plötzlich irgendwelche Gaskammerwitze auspackt und alle aufrechten Sozialdemokraten am Tisch anfangen, sich zu unbehaglich fragen, ob sie noch FDGO-konform unterwegs sind oder gerade in eine Nazi-Kameradschaft abrutschen. „Muss ich etwa – horrible dictu! – Zivilcourage zeigen und einen Streit anfangen, der zu gegebener Uhrzeit in Scherereien ausarten kann?“, denkt sich jeder gute Staatsbürger erschrocken. Davon kann der Jude sie erlösen, indem er „ist nicht schlimm“ sagt und vielleicht sogar ein bisschen lacht. Und dann erzählt er selbst einen klassischen Judenwitz und Schwupps: die Gemütlichkeit ist wiederhergestellt.
Ich habe dazu keine empirischen Untersuchungen getätigt, aber ich vermute, dass unsere berühmten, bis weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichenden Witze über uns selbst, mit denen jedes jüdische Kind aufwächst, bei genau solchen Anlässen entstanden sind. Wo es noch Juden gibt, sind sie daher auch nach wie vor in der Comedybranche überrepräsentiert, obwohl die Juden, von denen die Witze handeln, ähnlich oft vorkommen wie preußische Wachtmeister und bolschewistische Kommissare, denen sie begegnen. Andere Minderheiten haben das Erfolgsrezept mittlerweile auch entdeckt und lachen freudig-öffentlich über ihre schrullige Verwandtschaft. Die Mehrheit kriegt das irgendwie nie hin: „schmeißt der Deutsche den Türken aus dem Flugzeug und sagt, dass er genug davon hat“, mäßig lustig einfach.
Ironie des Schicksals
In den Periode irgendwann zwischen 1945 und ungefähr 2022, als die ganze Welt noch den Faschismus und den Antisemitismus geächtet hatte, war „ist nicht schlimm“ eine sehr gefragte Ware. Strongmen wie Lukaschenko und Putin haben sich mit orthodoxen Rabbinern fotografiert. Ahmadinedschad hat sogar eine „war doch nicht so schlimm“-Konferenz veranstaltet und Fachleute von Neturei Karta eingeflogen. So grausam ist die Ironie des Schicksals: etwas, was Antisemiten unbedingt brauchten, um als ehrbar zu gelten, hatten ausgerechnet fast ausschließlich Juden im Angebot. Das oberste Gesetz auf der Welt ist aber das des Angebots und der Nachfrage, also werden beide Gruppen immer wieder handelseinig. In Deutschland war die Nachfrage aus historischen Gründen besonders hoch: als hier die Juden zum „ist nicht schlimm“ sagen auszugehen drohten, hat man uns aus der ehemaligen Sowjetunion eingeladen. Meine Großeltern, die den Krieg noch erlebt hatten, fuhren lieber nach Israel. Meine Eltern, in der Sowjetunion materialistisch erzogen, verglichen die Eckdaten und entschieden sich für Deutschland.
Nicht jedes „ist nicht schlimm“ ist dabei gleich viel wert. Für das obenbezeichnete Vereinsheim reicht es auch, jüdischer zu sein als die anderen: obskure Familienlegenden über jüdische Uropas zusammen mit Nachnamen wie Judt, Moses oder Wolff reichen dafür schon aus. Wenn es darum geht, einem Ministerpräsidenten „ist nicht schlimm“ zu sagen, dann müssen schon Honoratioren aus dem Zentralrat her. Die Gravitas des eigenen „ist nicht schlimm“ sinkt zudem misslicherweise mit jeder abgegebenen Bürgschaft. Hat man zum Beispiel der Documenta vorab Unbedenklichkeit bescheinigt, steht man ausgesprochen dumm da, wenn sie dann doch riesige Stürmerkarikaturen raushängt.
Gravitas wieder aufbauen
Erfreulicherweise kann man diese lädierte Gravitas wieder aufbauen, indem man zum Beispiel ein Buch mit Plattitüden über den Antisemitismus schreibt oder sich über jemanden echauffiert, mit dem man ausnahmsweise mal nicht befreundet ist: als Linker kann man zum Beispiel den obenerwähnten Aiwanger gut aufs Korn nehmen. Als Konservativer findet man gerade in Greta Thunberg ein dankbares Ziel. Allerdings können sich auch Jahrzehnte im bissigen Feuilleton bei einer fotografierten Umarmung durch die Vorsitzende einer Nazipartei in der Luft auflösen und der gestern noch gefragte Gast und Gastgeber aller Fernsehformate verwandelt sich in einen wirren Opa, mit dem jetzt andere lieber nicht auf einer Veranstaltung auftauchen sollten, wenn sie ihre Gravitas nicht gefährden wollen. Da kann man ja gleich mit Abi Melzer ein Selfie machen!
Was grundsätzlich gut für die Gravitas ist, ist Prominenz – ein berühmter Jude ist besser als irgendein Jude – und Fachkompetenz. Diese letztere können auch Nichtjuden ganz ohne Gijur erwerben. Man kann als Ordinarius ganz aufwendig nach Jahrzehnten an den Hochschulen zum Vorstand eines Forschungszentrums zum Antisemitismus werden und ex cathedra „nicht so schlimm!“ sagen. Man kann auch mit weniger Aufwand irgendeiner Gedenkstätte vorstehen oder von irgendeinem politischen Gremium zum Antisemitismusbeauftragten ernannt werden: da hat man allerdings nur wenig Gravitas und sollte ausgesprochen zurückhaltend damit umgehen. Oder man kann einfach so tun, als sei man einer. Das kann natürlich peinlich sein, wenn das auffliegt. Wenn man einfach nur gelogen hat, wird man gecancelt. Wenn man wenigstens ein Vatersjude ist oder in der Jews-for-Jesus-Freikirche wie dieser AfD-Mann, wird es nicht so eng gesehen. Bei irgendwelchen semianonymen Instagram-Organisationen schaut wiederum eh keiner nach: ein bisschen jüdischen Akzent nachgemacht und ab zum Nakbatag. Allerdings trägt die Gravitas dann auch nicht weiter als die eigene Tiktok-Reichweite. Mehr will Hamas-Propaganda oft aber auch gar nicht.
Einen Juden engagieren
Nicht zuletzt kann man, wenn einem die ganzen Wege zu beschwerlich sind, man aber ein „nicht-so-schlimm“ trotzdem gerne hätte, einfach einen Juden fragen, ob er das bitte sagen möchte. So forderte mich neulich ein SDAJ-Kader mehrmals auf, meine „jüdische Perspektive“ für seine politischen Ziele – damals die Verharmlosung des Hamas-Angriffs auf Israel – einzusetzen. Ich war beleidigt. Schließlich ist es, als würde man eine fremde junge Frau einfach auffordern, sich auszuziehen. Für wie billig hält man uns? Solche Gefallen sind selbst für gute Freunde und einflussreiche Politiker nicht einfach so mal rausgerückt. Wenn man nicht eine gutbezahlte Stelle als Berater für Antisemitismusfragen anzubieten hat, muss dabei also wenigstens smooth vorgehen, wie ein Verführer.
Einsteigen kann man dabei emotional: „weißt du noch, wie wir immer im Club Voltaire einen trinken waren? Du hattest da auch mal einen Vortrag gehalten und die Leute von der Titanic neulich auch!“ ist zum Beispiel gut. Da denkt sich der Jude schon „Hach ja, Club Voltaire, ein schöner Ort! Die Getränke dort waren immer so schön günstig, für Frankfurter Verhältnisse“. Da macht man den Sack zu und sagt: „jetzt wollen sie den schließen! Ja angeblich wegen Antisemitismus! Kein Quatsch, die knapsen ihm die Förderung ab, und dann ist er erledigt! Nur weil da so eine BDS-Truppe aufgetreten ist. Aber du bist da ja auch mal aufgetreten! Voltaire, Meinungsfreiheit, alle dürfen was sagen, das sind die Spielregeln. Bitte schreib was, du weißt: in der Frage ist deine Stimme gewichtiger als unsere“. Und schon sitzt man als Jude da, verteidigt den scheiß BDS und fragt sich, wie das passieren konnte.
Und wenn man erstmal den Artikel für die Stammkneipe veröffentlicht hat, kommen Leute an und sagen: „Grüß dich, Genosse. Wir fanden deinen Artikel neulich echt Spitze. Magst du deinen Namen unter diese Petition setzen? Da steht nix drin, was du selbst nicht schon geschrieben hast. Wir würden dich auch gerne zu unserer Podiumsdiskussion einladen. Fahrtkosten werden natürlich bezahlt“, und schon ist man drin. Jedes weitere mal kostet weniger Überwindung als das vorherige. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich schließlich ganz ungeniert. Auf der konservativen Seite geht die Pipeline genauso. Nur wandert man da von der Welt zur Achse des Guten und irgendwann zu noch popeligeren Blogs und plötzlich steht man bei einem Pegida-Ableger auf irgendeinem Dorf auf der Bühne und sagt, dass Abschiebungen nicht nur „nicht so schlimm“, sondern auch ziemlich wichtig sind, weil man sich sonst einfach nicht sicher fühlt, als kleines, verletzliches Wesen, das man geworden ist.
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