Die Teenager-Rebellion

Hygienedemos In zahlreichen Städten demonstrieren zahlreiche Bürgerinnen und Bürger gegen ... ja, wogegen eigentlich?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Proteste gegen die Corona-Beschränkungen in Berlin: Was also wäre ein besseres Anliegen für ein kleines, persönliches 1968, als eines, bei dem man definitiv gewinnen wird?
Proteste gegen die Corona-Beschränkungen in Berlin: Was also wäre ein besseres Anliegen für ein kleines, persönliches 1968, als eines, bei dem man definitiv gewinnen wird?

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Die Autohäuser und die Möbelhäuser sind offen. Die Biergärten begrüßen ihre durstigen Besucher. Der Mitarbeiter vom Tegut, der die Kunden vor der Tür anwies, ob der Überfüllungsgefahr nur mit einem Einkaufswagen in den Laden zu gehen, ist wieder an die Kasse versetzt worden. Die Hygienestation ist noch da, aber das Sterilium im Spender ist leer. Die Schülerin, die gegen die Wiederaufnahme der Schulpflicht klagen wollte, hat ihre Klage zurückgezogen. Die Klage der Lehrerin, die nicht auf die Arbeit wollte, wurde abgewiesen, weil es ja Hygienekonzepte gibt. Der Klage gegen Grenzkontrollen wurde stattgegeben – der Kläger kann nach Schweden. Alles öffnet. Mallorca erwartet Touristen und auch Kroatien möchte die Deutschen gerne wiedersehen. Die deutsche Industrie findet das begrüßenswert: wenn die Spanier und die Kroaten mit ihren Ferienwohnungen in der Urlaubssaison nämlich Miese machen, können sie sich wahrscheinlich nicht so schnell wieder deutsche Autos kaufen.

Eigentlich wüsste man auch als Lockdown-Gegner nicht wirklich, wogegen man da noch groß rebellieren soll. Festivals, Konzerte, Theateraufführungen werden kaum stattfinden, auch wenn die Regierung sie entschieden erlaubt und empfiehlt: Allein schon, weil sich die kritischen Masse an Besuchern, die die Events rentabel machen würde, nicht unbedingt finden lassen wird. Die drohende Krankheit ist recht tückisch und die Menschen sind mittlerweile gut über ihre Natur informiert. Man wünscht sich keine Folgeschäden für die Lunge und für das Kind kein Kawasaki-Syndrom. Bis der Impfstoff kommt, werden viele Menschen lieber spazieren gehen. Und dennoch: Eine halbe Million Menschen wurde für die Demonstratien in Stuttgart angemeldet. Fünfstellige Besucherzahlen werden in zahlreichen deutschen Städten erwartet.

Was wollen diese Menschen? Sind das alles Verrückte? Haben irgendwelche Youtube-Demagogen sie alle überzeugt? Das wäre recht gruselig, aber erfreulicherweise auch eher unwahrscheinlich. Gewiss, etliche Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker sind mit von der Partie, aber eben nicht nur die. Wenn man zufällige Demonstranten stichprobenartig befragt, erzählen sie einem gewöhnlich nicht, dass Bill Gates ihnen einen Chip unter die Haut einpflanzen möchte, um die Bevölkerung zu reduzieren. Das ist schließlich den allermeisten bei aller verbreiteten Impfskepsis ein Ticken zu wirr. Normalerweise sind sie einfach gegen Gesichtsmasken – aus welchem Grund auch immer – und glauben, dass der Lockdown der Wirtschaft schadet, auch wenn seriöse Wirtschaftswissenschaftler zum Teil eher vor zu schnellen Öffnungen warnen. Warum Angela Merkel beschlossen haben will, anlässlich einer leichten Grippe „die Wirtschaft“ gegen die Wand zu fahren, dazu haben sie meistens keine logisch stringente Antwort und greifen dann doch, wenn auch ungern, auf kuriose Theorien zurück.

Die Demonstranten finden sich in jeder Schicht und jeder Partei. Viele von ihnen sind gar nicht politisch, sondern einfach nur sehnsüchtig nach einer kleinen Rebellion bei gutem Wetter. Und welcher Gegenstand eignet sich dafür besser als einer, in dem alle Mächtigen mit denen im Grunde einer Meinung sind, von den Spitzen der Politik über die Kapitäne der Wirtschaft bis hin zu den Wirten und den Gebrauchtwagenhändlern in den eigenen Dörfern? „Der Lockdown muss endlich ein Ende finden“, heißt es in jeder Partei, in jeder Staatskanzlei. Die Infektionszahlen gehen schließlich auch wirklich weltweit zurück. Was also wäre ein besseres Anliegen für ein kleines, persönliches 1968, als eines, bei dem man definitiv gewinnen wird? Welcher Gegner ist dankbarer als die vom Kubicki abgekanzelten Langweiler vom Robert-Koch-Institut und die auf dem Rückzug befindliche „Lahme Ente“ im Kanzleramt? Wenn Merkel die „Mutti“ der Nation sein soll, sind die Coronarebellen ihre rotzigen Teenager. Man kann ihnen nur wünschen, danach nicht irgendwo in einen Weinkeller einzukehren, sondern im Freien zu trinken: Die Infektionsgefahr ist nach allem, was wir wissen, in geschlossenen Räumen höher.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Anton Stortchilov

Ein Linker aus Hessen.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden