Solidarität statt Mitleid

Antirassismus Viele Linke verstehen den Mord von George Floyd ausschließlich als ein Problem mit der rassistischen Polizei in den USA. Damit verschenken sie Potenzial für Solidarität

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Solidarität statt Mitleid

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

„How can we win?“, fragt Kimberly Jones in einem viralen Video. 400 Jahre Sklaverei, Segregation, Diskriminierung – das ist eine Hypothek, die schwer auf der ganzen afroamerikanischen Community lastet. Für sie bleibt der „amerikanische Traum“ deshalb ein leeres Versprechen. Der willkürliche, brutale, sinnlose Mord an George Floyd durch Menschen, die eigentlich über die Einhaltung der Regeln wachen müssen, habe zudem den „Gesellschaftsvertrag“ mit der Community aufgekündigt, wodurch auch Unruhen und Plünderungen gerechtfertigt sind.

Die kurze Rede ist bewegend. Man kommt nicht umhin, mit den People of Color (PoC) in den USA mitzufühlen, hat aber als nicht-PoC selbst nur wenig damit zu tun: Es ist fremder Schmerz von Leuten weit weit weg. Man kann sein Profilbild auf Instagram durch ein schwarzes Viereck ersetzen, ein Sharepic von Black Lives Matter teilen, auf eine Demonstration gehen: Es bleibt dennoch so fremd wie das sterbende Korallenriff, das Leid eines Ferkels im konventionellen Mastzuchtbetrieb, die Morde der Nazis vor 80 Jahren. Manchen Menschen geht das nahe, andere werden davon kalt gelassen.

Mitleid und Empathie kann man weder verordnen, noch kann man dafür rationale Argumente finden. Entweder empfindet man die entsprechenden Gefühle, oder eben nicht. Gewöhnlich sind im Übrigen vor allem diejenigen Menschen besonders empfindsam, die ansonsten ein recht wolkenloses Leben führen. Wer sich ernsthafte Sorgen um sich und seine Nächsten macht, hat es oft schwer, seine emotionalen Kapazitäten für allerlei Fremde zu mobilisieren. Solidarität hingegen ist aus einem anderem Holz geschnitzt: Wenn ein Problem uns alle angeht, wenn wir alle potenziell betroffen sind, dann haben wir auch ein Argument, warum wir alle gemeinsam um eine Lösung kämpfen müssen. Solidarität leuchtet auch denjenigen ein, die selbst vor großen persönlichen Schwierigkeiten stehen. Sie ist nicht optional, sondern die Pflicht eines jeden. Wer unsolidarisch handelt, muss sich rechtfertigen.

Der einzige Haken ist, dass die Sache eben eine gemeinsame sein muss. Das wird allenthalben in Zweifel gezogen – und nicht nur von Rechts. Auch linke Politiker*innen erklären, deutsche Polizei sei ganz anders als die amerikanische – sie verdiene mehr Anerkennung und ein höheres Etat. Wer außerdem sagt, das Problem betreffe alle Menschen, macht die Opfer des Rassismus unsichtbar, so heißt es. Die Argumente sind nicht alle notwendig sachlich falsch: strategisch erweisen sie der Sache aber einen Bärendienst.

George Floyd war einer von uns

Die Polizeigewalt ist eine Erfahrung, die ganz viele Menschen machen. Ethnische Minderheiten sind davon zwar weitaus häufiger betroffen, aber sie sind nicht die einzigen Opfer. Jeder Prolet weiß, dass Polizist*innen auch Menschen sind und damit manchmal auch schlechte Menschen. Die Meisten haben zumindest Bekannte, die von einem Menschen in Uniform ziemlich grundlos Schellen bezogen haben – ob bei einer Demo, bei einem Fußballspiel, nach einem Clubbesuch. Das passiert einfach. Wollen die Betroffenen den übergriffigen Ordnungshüter vor Gericht zerren, so hat man Glück, wenn überhaupt eine Anklage erhoben wird. Die (manchmal auch fingierte) Gegenanzeige, mit der die Polizei solche Frechheiten zu bestrafen pflegt, hat indessen gute Aussichten auf Erfolg. Die Beamt*innen gelten allgemein als sehr zuverlässige Zeugen – und tendieren dazu, sich gegenseitig vor Gericht zu bestätigen. Das macht Menschen, die davon betroffen sind, ganz schön wütend.

PoC und andere Minderheiten haben darauf ihre eigene Antwort, die da heißt „wir müssen zusammenhalten und können uns auf diesen Staat nicht verlassen, weil er rassistisch ist“. Das ist nur logisch und auch richtig, führt aber in eine politische Marginalität, weil man sich im Kampf für die Rechte der Minderheit nur auf die Minderheit selbst verlässt, sowie auf Intellektuelle, die durch Mitleid mit den armen Betroffenen motiviert sind.

Will man Bündnisse schaffen, die dieses Land verändern können, dann muss man unabhängig von der Hautfarbe sagen können: George Floyd war einer von uns. Ein Prolet, der von den Vertretern einer freidrehenden Staatsmacht erwürgt wurde, weil sie es konnten und wollten. Irgendein Mirko aus Delmenhorst hätte genauso grundlos draufgehen können, weil auch sein Leben im Zweifel nichts wert ist, wenn er keinen Rechtsanwalt zum Onkel hat. Nur wenn man diesen Gedanken zulässt, wird es wirkliche Solidarität geben: Wir alle sind mitgeschlagen, wenn die Polizei auf Migrant*innen einprügelt.

Sagen die Linksintellektuellen den Proletarier*innen, das sei nur ein Problem im schlimmen Amerika, das zudem nur Schwarze wirklich betrifft, dann verstehen Proletarier*innen es als ein: „Das geht euch nichts an. Eure Erfahrungen interessieren uns nicht. Wir sind hier, um uns um Minderheiten zu kümmern“, woraufhin die Proletarier*innen mit den Schultern zucken, ihre Solidarität wieder einstecken und sich ein wenig fragen, wozu sie solche Linksintellektuellen brauchen, die auf ihre Probleme keinen Pfifferling geben.

Und es ist klar, dass die Kämpfe und Entbehrungen der PoC oft deutlich härter sind als die Kämpfe der von rassistischer Diskriminerung Verschonten. Das können sie aber nur wertschätzen, wenn sie wissen, dass das ein gemeinsamer Kampf gegen eine elendig eingerichtete Gesellschaft ist und nicht ein Ringen vereinzelter Gruppen um die Anerkennung in einer an sich alternativlos funktionierenden Welt. Dass die Kämpfe in den USA schon lange nach Letzterem aussehen, ist mit einer der Gründe, warum die Rechte dort so stark ist und die Linke so zerfasert. Erst wenn sich alle nicht-Millionäre gemeinsam fragen, wie sie denn gewinnen können, können sie irgendwann auch tatsächlich gewinnen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Anton Stortchilov

Ein Linker aus Hessen.

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