Leaves of Wedding

Berlin Berlin ist immer noch zweigeteilt, nämlich in das Berlin für Touristen (Schwaben) und das für Berliner. Eine Liebeserklärung an den berlinischesten Teil Berlins.

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In den Großstädten des neunzehnten Jahrhunderts war ein Typ von Mensch eine geläufige Erscheinung, der zu Fuß durch die Straßen strich und die Stadt und ihre Veränderungen und ihr Getriebe in sich aufnahm, nämlich der Flaneur. Es soll solche Leute auch im vergangenen Jahrhundert noch gegeben haben, doch vermutlich wurden sie vom Lauf der Zeit überfahren, jedenfalls hat man lange nichts mehr von ihnen gehört. Aber nachdem sich mir vor ein paar Jahren eine veritable Wampe zugesellt und seither als überaus anhänglich erwiesen hat, habe ich es mir vor einer Weile zur Gewohnheit gemacht, die alte Sitte für mich wieder aufzunehmen und Berlin zu Fuß zu durchwandern. Nicht dass es mir bisher damit je gelungen wäre, Wampe wieder abzuhängen, aber etwas gebracht hat es schon: Meine Waden passen in kaum noch ein Hosenbein, und ich lerne die Stadt immer wieder neu und jedes Mal ein bisschen genauer kennen. Die interessanteste Strecke, die mir dabei bisher unter die Füße gekommen ist, verläuft quer durch den „kleinen Hundekopf", vom Südkreuz nach Wedding.

Sie beginnt im vorstädtisch beschaulichen, verträumten Neu-Tempelhof, wo der Kot von Fiffi und Waldi brav eingetütet wird und man schonmal die Polizei holt angesichts eines bar liegenden Häufleins, und wo ein Bestattungsunternehmen gleich neben dem Krankenhaus aufgemacht hat, falls dort mal etwas schief geht. Fast möchte man sich nicht trennen, aber die Duden- und unweit später die Yorckstraße reißen einen hinaus aus dem Idyll und randscharf an einen Teil echten West-Berlins, zerschunden und zerschlagen von ganz anderen Träumen, den kaltherzigen, größenwahnsinnigen, mit denen man vor vierzig, fünfzig Jahren Städte umzupflügen sich verlustierte. Hat man dies und das Tempodrom und den Bolzplatz davor hinter sich gelassen und den Askanischen Platz überquert, der noch ein bisschen, einen Hauch von seinem früheren Charme erahnen lässt, dann steht vor einem, was gerne die Neue Mitte sein will und doch nur eine Art Disneyland geworden ist, darin, schon halb fertig ein poliertes Furunkel, die architektonische Monotonie des Leipziger Platzes - man darf gespannt sein, wann den ersten die stumpfe Geschmacklosigkeit der uniformen Fassaden aufgeht und sie abgerissen und belebt werden: lange wird es wohl nicht dauern.

Dann biegt man ab, erst links, dann rechts, dann wieder links und steht in dem, was der Welt als das schicke, das urbane, das postmoderne, spätmoderne, schillernde, glitzernde und vor allem lebendige Berlin präsentiert wird und dabei doch nur dumm und protzig aus seinen granitenen, verklinkerten, glaskaschierten Fassaden glotzt und ab zwanzig, zweiundzwanzig Uhr all seinen Reichtum der umgebenden Luft mit derselben nonchalanten Blasiertheit darbietet wie, sagen wir, Idar-Oberstein. Die Friedrichstraße meine ich, die morgens und an den Nachmittagen durchaus quirlig ist und geschäftig und vor fremden Sprachen sprudelt - und dabei doch so fremdplatziert wirkt wie die Straßenbahn darin, die auch nur zusieht, dass sie rasch wieder hinaus kommt: Schlösse der Bahnhof, sie wäre noch am selben Tag ausgestorben, diese Straße, denn niemand brauchte sie. Es folgt erneut ein Stückchen Disneyworld, um den Friedrichstadtpalast und in der Oranienburger Straße. Nicht der Rede wert, nur weiter!

Denn dann, dann brodelt’s! Zumindest das Erdreich, denn Berlin baut sich eine neue Straßenbahnstrecke, gute zwei Kilometer von der Chausseestraße zum Hauptbahnhof. Und weil’s so schön was hermacht, wenn man eine Straße aufreißt und mit vielen Baggern und Kippern durch den Matsch rumpelt und die schicken rot-weißen Playmobil-Absperrungsgitter so fürchterlich wichtig aussehen, hat man aus den zwei Kilometern Trambahngleisen eine Staatsaktion gemacht, die nun schon seit fast einem Jahr zugange ist und, wie sie aussieht, gewiss noch eine ganze Weile sichere Arbeitsplätze im Straßenbau erhalten wird. New York baute sein gesamtes Subwaynetz in zwei Jahren (wenn ich mich recht entsinne), aber Berlin ist ja auch kleiner.

Über schwere Gehwegplatten aus Wilheminischer oder spätestens Weimarer Zeit, die sich der Monotonie ihres Daseins dadurch zu entziehen wussten, dass sie mit der Zeit jede eine andere Höhe einnahmen, passiert man die Baustelle des Bundesnachrichtendienstes, bzw. dessen Hauptquartiers (oder wie das dort heißt), dessen bereits fertiggestellte und in Betrieb genommene Teile schon jetzt so gelangweilt aussehen wie aus Sicherheitsgründen wohl die Leute, die darin arbeiten. Gegenüber sei ein Wohnbau geplant, verheißt ein großflächiges Plakat, und die Zeichnung darauf droht mit bereits bekannter Einfallslosigkeit. Also rasch daran vorbei und hin zum Nichts. Naja, fast Nichts. Eine Tankstelle, eine breite Einmündung: Ach ja! Hier war die Mauer. Nichts - Mauer - Nichts, rechts ein Friedhof. Vermutlich auch ganz praktisch, schließlich wurde auf dem einen Nichts mal scharf geschossen.

Man überquert die so grausam in Beton geprügelte Panke, lässt Schering links liegen, unterquert die S-Bahn und - ist in einer anderen Welt. Man ist im Wedding. Wedding: Gelassen, unverändert, unberührt von all dem eitlen Geprotze und Geprunke, aus dem man gerade kommt. Wedding: schmutzig, besoffen nölend, asozial herzlich - und vor allem: ehrlich. Das schönste Stück Berlin, wo gibt. Der Obst- und Gemüsehändler, der schon morgens um sieben seine Waren feilhält. (Wo kriegt er die eigentlich her: so schöne Äpfel im Januar?) Die Apotheke, die mit Rabatten wirbt, die keine sind. „Casino” genannte Etablissements, die nie jemand betritt und die dennoch leben. Bratwurst, die seit fünf Jahren 1€ kostet und immer noch nach Bratwurst schmeckt. Der Bengel, der vom Kaiser’s Wachschutz mit fünf Pfund Kaffee unterm Pullover erwischt wird. Toupierte Chicks, dumm wie Brot, die pinkgelippt und fett aus ihren Leggings quellend sich mit Gekreisch über ihre letzte SMS hermachen. Die schwarzblond gesträhnte Kassiererin im Textil-Discounter, die lustvoll ihre moppelige Neueinstellung mobbt. Die Trinker im U-Bahnhof, wie ironisch um den Sparkassenautomaten gruppiert, weil sie sich da nicht nach den Flaschen bücken müssen. Männer, die allesamt viel zu hart sind, als dass sie im Backshop eine Schrippe mit der Zange anfassen würden und stattdessen ungeniert reingreifen mit den ungewaschenen Pfoten. Der Asia-Supermarkt im Souterrain. Blumen aus beinahe Vietnam. Kräuter-Kühne, dieses Relikt, bei dem es nach der ganzen Welt riecht und man die dicksten Muskatnüsse der ganzen Welt bekommt. Der Imbiss mit den schärfsten Currywürsten, der Döner mit dem dicksten Klops am Spieß - das ist Wedding, der schönste Teil von ganz Berlin! Neukölln und Moabit sind ähnlich, aber mehr aggro, mehr kampfhund. Wedding ist besser, Wedding liebt, Wedding hasst, Wedding zofft sich, Wedding verträgt sich, Wedding lebt. Kopftuch und Kinderwagen, Rollator und Dauerwelle, Krückstock und Husten, Schischa und Tee, Curry ohne, Bulette, Pommes, Molle und Joint: Das ist die Zukunft von Berlin, nur so kann sie sein!

Wedding, ach Wedding, du armes Tier: Ick liebe dir!

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