Liberty? Schtunk! - Schtunk?

Meinungsfreiheit Wir erleben zurzeit einen verbalen Bürgerkrieg, und alle machen mit. Warum das falsch ist und Facebook recht hat.

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Um es gleich vorweg zu sagen: Die Dinge, die da in Heidenau und anderswo passiert sind, unterscheiden sich in meiner Auffassung nur quantitativ von den Ereignissen des 9. November 1938, einen Unterschied in der Qualität sehe ich nicht.

Wir erleben in den letzten Wochen eine verbale Aufrüstung in sämtlichen Medien und zugleich eine Verrohung der Sprache, die beispiellos ist in der jüngeren Geschichte des Landes. Dass Herr Diekmann Ressentimens erst auflagensteigernd schürt (oder schüren lässt), um sie dann ebenso auflagensteigernd wieder zu bekämpfen, das ist man gewöhnt. Das ist sein Job, für den ich ihn nicht beneide, für seine moralische Betriebsblindheit am allerwenigsten. Und wenn es nur Herr Diekmann wäre und die paar, die mit ihm konkurrieren, es wäre mehr als das morgendliche Kopfschütteln nicht wert. The daily dose of bad taste.

Aber es sind ja nicht nur Bild und B.Z. und Kurier und Express und tz und wie sie alle heißen, die da kübelweise Abscheu über das Land kippen. Neu ist, dass es jetzt auch andere tun, dass es im Mainstream angekommen ist und es zum guten Ton gehört, jemanden zu hassen, und sich darüber zu freuen, wenn andere ihn auch hassen, und deshalb immer noch weiter und noch stärker zu hassen, bis es dann am Samstag zu dem bemerkenswerten Schauspiel kam, dass ein Flashmob in Münster öffentlichkeitswirksam und zur johlenden Freude aller ein paar anderen ein herzlich empfundenes ”Arschloch!” zugegröhlt hat. Aus sicherer Entfernung natürlich, denn man wusste, die Arschlöcher halten sich in Münster garantiert nicht auf, die sind weit weg im Norden. So hasst es sich bequem.

Da hat also der Herr Diekmann ein Unternehmen, Facebook, als asozial beschimpft, weil es Dinge nicht löscht, die dem Herrn Diekmann nicht passen. Unabhängig von den Dingen, die ihm da nicht passen und die mir vermutlich ebensowenig passen würden, läse ich sie (ich habe kein FB-Account), unabhängig davon hat Herr Diekmann sich also öffentlich darüber beschwert, dass Facebook keine Zensur ausübt. Das ist zwar eine eigenartige Vorstellung von Meinungsfreiheit, zumal bei einem Chefredakteur, aber gut. Man könnte es immer noch stehen lassen als übliche Kabbelei zwischen konkurrierenden Wirtschaftsunternehmen. Doch dann ging das Spiel weiter. Dann hat sich zunächst Heiko Maas der Sache angenommen in seiner Eigenschaft als Justizminister dieses Landes. Eigenartigerweise ergriff er nun nicht die Partei Facebooks, sondern die des Herrn Diekmann, und forderte ebenfalls von Facebook, es müsse eine Zensur ausüben. Das hat er wörtlich nicht gesagt, natürlich nicht, aber dass Beiträge von Leuten, die zum Hass anstacheln, gelöscht werden müssen, das werde man doch wohl noch sagen dürfen. Auch das hat er wörtlich nicht gesagt, aber es war der Tenor. Schließlich dann, wie immer als letzte herabschwebend auf ein Getümmel, äußerte sich die Kanzlerin. Sie unterstützte die Bestrebungen ihres Justizministers, Facebook müsse rassistische und Hasskommentare löschen. Wieso eigentlich? Weil sie Hass nicht mag?

”Wenn sie kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen.” Diesen Satz hat Marie Antoinette nicht gesagt, aber er klebt an ihr.

”Das ist Pack, was sich hier herumgetrieben hat.” Diesen Satz hat Sigmar Gabriel gesagt, aber er klebt nicht an ihm. Auch hat er das natürlich so nicht gesagt. Er hat gesagt, bei ihm zuhause würde man das sagen. Mal abgesehen von der Rabulistik, dass er ganz sicher nicht damit sagen wollte, dass er die Pack-Äußerung nur so mache, nur so zum Spaß, und sie nicht wirklich meine, weil er er doch gar nicht zuhause sei, abgesehen davon wird er doch auch ganz sicher nicht die Leute bei sich zuhause als welche beschimpft haben wollen, die andere als Pack bezeichnen - sie würden ihn wohl schwerlich wiederwählen. Es bleibt also nur die eine Interpretation: Der Vizekanzler und Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland hat in aller Öffentlichkeit einen Teil der Bevölkerung als Pack beschimpft. Das ist beschämend. Ich, ganz persönlich ich, schäme mich für diesen Minister, ich finde es schlimm, dass jemand, der Teile der Bevölkerung pauschal beleidigt, in der Regierung dieses Landes sitzt. (Und zudem noch Vorsitzender einer Partei ist, die einmal eine Volkspartei war - und das mit solchen Äußerungen hoffentlich nicht noch einmal wird.)

”Das ist Pack, was sich hier herumgetrieben hat.” Diesen Satz hat Sigmar Gabriel gesagt, aber er klebt nicht an ihm. Mag der Satz an sich beschämend sein, dass er nicht an ihm klebt, dass ihm niemand widersprochen hat, bis heute nicht, das ist erschreckend. Das ist mehr als nur erschreckend, das ist verstörend. Dass er damit durchkommt und dass man das auch noch gut findet. Hat es so etwas schon gegeben seit... ja, seit wann eigentlich?

Wir haben es in diesem beginnenden Herbst mit einem Deutschland zu tun, dass einerseits gelernt hat, endlich gelernt hat, Fremdes als Bereicherung wahrzunehmen und die Chancen nicht nur für die Gesellschaft insgesamt, sondern für jeden einzelnen zu erkennen. Mit einem Deutschland, das endlich von dem aus der Mehltau-Ära, aus den Zeiten der Kohl-Kanzlerschaft herrührenden - und schon damals unzutreffenden - Dogma ”Wir sind kein Einwanderungsland” Abschied nimmt und sich seiner Realität stellt. Und gleichzeitig haben wir es mit einem Deutschland zu tun, das in kollektiven, unbändigen Hass ausbricht auf die, die Angst vor den Veränderungen haben, die da auf uns zurollen, die sich jetzt schon abgehängt fühlen und Angst haben, man könne sie völlig vergessen. Und die vielleicht tatsächlich in puncto Bildung, in puncto Chancen abgehängt sind - keiner von denen, die da zu sehen waren, machte den Eindruck, als könne er oder sie einen Satz fehlerfrei schreiben. Und die wegen ihrer Ungebildetheit, wegen ihrer Unfähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen und Untertöne zu hören, willige Schafe sind für die Absichten derer, die sie aufstacheln. Und die in ihrer mangelhaften Sozialkompetenz, in ihrer unzureichenden Sprachkompetenz dann dämlich genug waren, zu tun, was zu tun jene sie hießen.

Noch einmal: Ich sehe keinen qualitativen Unterschied zwischen den Vorgängen in Heidenau und andernorts und denen am 9. November 1938. Aber dass das ganze Land, einschließlich seines Vizekanzlers, sich in seiner Ehrbarkeit suhlt und eine Hexenjagd veranstaltet auf seine Doofen, das ist neu. Gestern machte ein Video von Carolin Kebekus die Runde in dem sozialen Netzwerk, in dem ich mich tummele. Darin wird eine Frau da in Heidenau oder sonstwo bloßgestellt - nicht nur mal kurz, wie eben reingeschnitten, nein: als Hauptperson des Clips, persönlich angesprochen - und öffentlich verhöhnt, für ihre Dummheit verhöhnt. Da wird jemandes Persönlichkeitsrecht einfach ignoriert, jemandes Würde in den Dreck gezerrt. Und die Nation klatscht selbstgefällig Beifall. Was kommt als nächstes: Scheiterhaufen? Oder doch lieber gleich die Guillotine, mit Frau Kebekus als Tricoteuse? Schließlich sind wir doch umweltbewusst, und der viele Rauch, na ob der so gesund ist. Am Ende nehmen die dafür noch nicht einmal Bio-Holz.

Die taz, die an den Wochenenden gerne den Kollegen von der SPON-Redaktion den Platz in der Gartenlaube streitig macht, die taz hat uns gestern bescheinigt von ihren Höhen herab, wie gereift wir doch seien, wir alle, also wir Deutschen. Die taz irrt, das Gegenteil ist der Fall.

Weil es nämlich unreif ist, nach Mama zu rufen, wenn der doofe Nazi von nebenan wieder in unser Förmchen gespuckt hat. Weil es zur Reife gehört, die Tatsache zu ertragen, dass aus einem Arschloch Scheiße kommt. Weil man als Minister für das ganze Volk verantwortlich ist und nicht nur für die, die einem genehm sind. Weil man Trolle nicht füttert. Und weil man Freiheiten nicht abschafft, nur weil einige nicht damit umgehen können.

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