Barfüßige unbewaffnete Piraten

Flucht und Migration Auf dem Mittelmeer übernehmen aus Seenot Gerettete die Kontrolle über ein Tankschiff und zwingen es zur Kursänderung. Fragen nach Schuld und Verantwortung.

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Geflüchtete und maltesische Soldaten auf dem Tanker "El Hiblu 1"
Geflüchtete und maltesische Soldaten auf dem Tanker "El Hiblu 1"

Foto: Matthew Mirabelli/AFP/Getty Images

In der letzten Märzwoche erfuhren wir von einem erneuten Vorfall vor der libyschen Küste. Ein Tankschiff habe 108 schiffbrüchige Flüchtlinge aus Seenot gerettet und an Bord genommen. Auf Anordnung der libyschen Küstenwache, die für das Seegebiet, nur wenige Seemeilen vor der libyschen Küste, verantwortlich ist, sollte die „El Hiblu 1“ die Geretteten nach Tripolis bringen. Wenige Seemeilen vor dem Ziel drehte das Schiff jedoch ab und änderte seinen Kurs in Richtung Malta. Weiter ging es wie in einem Krimi. Es wurde gemeldet, die Geretteten hätten die Kontrolle über das Schiff übernommen und die Mannschaft zur Kursänderung gezwungen. Maltesische Spezialkräfte mit Schnellbooten und in einem Hubschrauber enterten das Schiff, übernahmen ihrerseits die Kontrolle und geleiteten das Schiff in den Hafen von Valletta auf Malta.

Die Geretteten seien unbewaffnet gewesen. Später sehen wir auf Bildern von der Ankunft auf Malta Menschen, die in einfacher Kleidung, einige in Lumpen und barfuß, unsicher eine Gangway hinabsteigen, unter ihnen Kinder und Frauen. Die Ereignisse aufzuklären ist Aufgabe der unabhängigen Justiz Maltas und der örtlichen Polizeibehörden, eine gewisse Verwunderung und vorsichtiger Zweifel kommen jedoch auf. Diese Menschen sollen Piraten sein, als die sie der italienische Innenminister bezeichnete? Diese Menschen sollen gewaltsam die Kontrolle über ein großes Tankschiff übernommen haben, unbewaffnet?

Es geht nicht darum, Gewalt zu akzeptieren und Straftaten zu rechtfertigen. Aber wer kann es den Menschen, die soeben aus einem Land entkommen sind, in dem viele von ihnen „unvorstellbares Grauen“ erlebt haben, wie die UN in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr die Lage in Libyen beschrieben haben, verübeln, dass sie dorthin nicht zurückgebracht werden möchten? Wie groß müssen die Verzweiflung und die Angst dieser Menschen sein, dass sie sich in einem Augenblick, in dem sie aus größter Not gerettet wurden, nicht anders zu helfen wissen, als womöglich so weit zu gehen, auch Gewalt gegen ihre Retter anzuwenden?

Wie weit wollen wir unsererseits gehen in der Missachtung der Menschenrechte und grundlegender humanitärer Werte und Ideale? Wir sollten, wir müssen unseren Umgang mit Flüchtlingen und Migranten auf dem Mittelmeer ändern. Wir sollten nicht länger dulden und akzeptieren, dass Menschen in Not kriminalisiert werden und zu Schuldigen gemacht werden, um von unserer Verantwortung und unserem Scheitern abzulenken.

Die Lösungen zur Bewältigung der großen Herausforderungen der Flucht und Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre liegen nicht im Grenzschutz, nicht im Bau einer Mauer zwischen Mexiko und den USA, nicht in einer Erweiterung der Möglichkeiten und Fähigkeiten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die in den kommenden Jahren stark ausgebaut und aufgerüstet werden soll.

Solange so dramatische Unterschiede in den Lebensbedingungen der Menschen zwischen verschiedenen Ländern vorherrschen, solange Hungersnöte und Kriege grassieren, solange die Folgen des Klimawandels Naturkatastrophen hervorrufen und weite Regionen unbewohnbar machen, wird es Flucht und Migration auf unserem Planeten geben und die fliehenden Menschen werden Wege finden, an die Orte zu gelangen, die sie sich zum Ziel gesucht haben.

Es ist unsere Aufgabe, den Menschen sichere Wege zu bieten und ihnen Asyl zu gewähren, wenn sie in ihrer Heimat nicht sicher und menschenwürdig leben können. Genauso ist es auch unsere Aufgabe, dabei zu helfen, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Fliehenden und der Migranten zu verbessern, so dass die Menschen keine Not spüren, ihre Heimat zu verlassen – hierzu gehören Frieden und Sicherheit, gesunde Ökosysteme, leistungsfähige Gesundheitssysteme, faire Bildungssysteme und eine faire globale Wirtschaftsordnung.

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