Die ungeheuerliche Spendenbereitschaft

Wohltätigkeit Reiche Spender haben über eine Milliarde Euro für den Wiederaufbau von "Notre Dame" bereitgestellt. Darf das sein – angesichts weitaus größeren Leids auf der Welt?

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Die Erschütterung über den Brand der Kathedrale "Notre Dame" hat zu hoher Spendenbereitschaft geführt. Wie ist sie moralisch zu bewerten?
Die Erschütterung über den Brand der Kathedrale "Notre Dame" hat zu hoher Spendenbereitschaft geführt. Wie ist sie moralisch zu bewerten?

Foto: Geoffroy van der Hasselt/AFP/Getty Images

Die Spendenbereitschaft ist riesig. Nach dem Brand von Notre Dame, der die Menschen nicht nur in Frankreich und in Europa, sondern in vielen Ländern auf der ganzen Welt erschüttert hat, sind binnen weniger Tage bereits mehr als eine Milliarde Euro Spendengelder für den Wiederaufbau zugesagt worden. Die Spendenbereitschaft unterstreicht die viel zitierte Wahrnehmung der Kathedrale als „Seele Frankreichs“, für die die reichsten Unternehmerfamilien des Landes sich zu einer Unterstützung in jeweils dreistelliger Millionenhöhe bereit erklärt haben.

Ebenso rasch und genauso absehbar folgte jedoch die Kritik auf diese unglaubliche Spendenbereitschaft. Wie könne es sein, so die vielfach vorgebrachte Kritik, dass für den Wiederaufbau eines Baudenkmals innerhalb weniger Stunden hunderte Millionen Spendengelder bereitstehen, während Projekte zur Armutsbekämpfung anhaltend unterfinanziert sind, während Spendenaufrufe zur Unterstützung der Menschen, die unter der Hungersnot im Jemen leiden, nicht ausreichend Aufmerksamkeit erregen, während auch in Frankreich Menschen hungern, kein Obdach haben und auf der Straße leben?

Diese Entrüstung und diese Kritik folgen dem altbewährten Ziel, durch leicht nachvollziehbare Allegorien und Vergleiche einer als falsch empfundenen Sache die Berechtigung zu entziehen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die eigene Aufgabe, auf das eigene als wichtiger empfundene Ziel zu lenken. Es ist verständlich, dass diejenigen, die sich gegen das Sterben im Mittelmeer einsetzen, es als unfair empfinden, wenn so hohe Summen scheinbar problemlos für den Wiederaufbau einer Kathedrale zur Verfügung gestellt werden, während viel niedrigere Summen, die für die Rettung von Migranten auf dem Mittelmeer notwendig wären, nur schwer oder nicht ausreichend einzusammeln sind.

Und dennoch ist diese Reaktion die falsche, verfehlt sie das Ziel. Es darf nicht sein, dass Kinder im Jemen aufgrund eine Krieges Hunger leiden und sterben, es darf nicht sein, dass allein in Afrika Millionen Kinder in Folge bewaffneter Konflikte ums Leben kommen, wir dürfen nicht dulden, dass Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Körper verkaufen müssen, misshandelt und gefoltert werden, dass Menschen leiden oder sterben, nur weil der Zufall der Geburt sie am vermeintlich falschen Ort auf der Welt ausgesetzt hat.

Nicht aber die Spenden für den Wiederaufbau von Notre Dame verschulden diese Missstände. Sicher, womöglich könnte ein Milliarde Euro an Spendengeldern für andere Projekte, Initiativen und Maßnahmen das Leid einiger Menschen lindern. Eine bessere Finanzierung der Hilfe für den Jemen würde dort sicher das Leben einiger Kinder verbessern und retten, sicherlich könnten bereits einige hunderttausend Euro die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen auf dem Mittelmeer bedeutend unterstützen und so Menschen vor dem Ertrinken retten, sicher könnten einige Millionen Euro für eine weitere Verbreitung von Moskitonetzen oder von antiretroviralen Medikamenten gegen HIV/AIDS eine bedeutende Zahl an Menschenleben retten.

Wir dürfen aber nicht den Fehler begehen und uns in utilitaristischen Rechnungen verlieren und den Nutzen des einen Ziels gegen den Nutzen des anderen Ziels ausspielen. Alle hier genannten Ziele und noch zahllose weitere humanitäre Ziele verdienen Beachtung, verdienen eine Lobby und sie verdienen und benötigen die notwendige finanzielle Unterstützung. Es ist verständlich und nachvollziehbar, dass diejenigen, die mit all ihrer Kraft für ein Ziel eintreten und kämpfen und leiden, Enttäuschung verspüren und Frust, wenn andere Ziele so plötzlich und wie aus dem Nichts aftauchen und dann unvermittelt eine solche Welle der Unterstützung erfahren wie der Wiederaufbau Notre Dames, während der Kampf für die eigenen Ziele viel schleppender, viel unprätentiöser und ernüchternder verläuft.

Schuldig sind wir alle

Die Schuldigen sind jedoch nicht diejenigen, deren Ziel der Wiederaufbau Notre Dames ist und die diesen mit beeindruckenden Summen unterstützen wollen. Schuldig sind wir alle, denn wir halten eine globale Wirtschaftsordnung aufrecht, die uns nutzt, während sie anderen schadet und sie ausnutzt, gleichzeitig schotten wir uns ab, schließen unsere Grenzen und achten darauf, dass niemand, dem wir nicht freiwillig Zugang gewähren, Zutritt bekommt und so halten wie die von uns Ausgenutzten fern von uns und in ihren prekären Lebensbedingungen gefangen.

Nicht humanitäre Hilfe, nicht die Zahlungen von Millionen- oder Milliardenbeträgen werden hier einen grundlegenden Wandel herbeiführen. Eine faire Wirtschaftsordnung verlangt die gleichberechtigte und faire Berücksichtigung der Interessen aller, so dass Kinderarbeit im Kongo genauswenig möglich sein wird wie bei uns, sie verlangt Zollsysteme, die nicht die starken Märkte vor den schwachen schützen, sondern welche die aufkommende Märkte vor den starken Märkten schützen und ihnen Wachstums- und Entwicklungschancen sichern.

Es ist für uns alle ein Gewinn, wenn durch die soeben erklärte großzügige Spendenbereitschaft so vieler Franzosen, der rasche Wiederaufbau Notre Dames gelingt und die Kathedrale schon in wenigen Jahren wieder vom unerschütterlichen Mut, der Zielstrebigkeit und Humanität unserer Kultur künden wird. Wenn es uns mit ebensolcher Zielstrebigkeit gelänge, auch wirksame Maßnahmen gegen Armut, Kindersterblichkeit, Hunger und gegen den Klimawandel auf den Weg zu bringen, würde das den Mut, die Zielstrebigkeit, die Humanität und nicht zuletzt die Würde unserer Kultur eindrucksvoll bestätigen

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