„Die leben da oben doch in einer Blase“

Bildung An Schulen wie in Kitas verschärft sich gerade die Ungleichheit, wie zwei Familien in Sachsen-Anhalt und Bayern zeigen
Ausgabe 48/2020
Schon lange vor Corona hatten arme Kinder schlechtere Bildungschancen als wohlhabende
Schon lange vor Corona hatten arme Kinder schlechtere Bildungschancen als wohlhabende

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Seit Corona streunt Jeremy viel durch die Straßen der Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, in der er lebt. Der Kinder-Freizeitclub, den er früher gern besuchte, war lange dicht. Jetzt herrscht dort ein strenges Hygiene-Reglement.„Das ist blöd“, findet der Zweitklässler. Heute habe er mit einem Freund gespielt, mit dem er das eigentlich nicht dürfe. Denn dieser gehöre nicht zu seiner „Kohorte“. Das Fremdwort kommt dem Kind leicht über die Lippen. In der Schule habe er gehört: „Wenn ich meine Kohorte verlasse, kann ich andere vielleicht umbringen.“

Jeremys Mutter will anonym bleiben. Die Alleinerziehende arbeitet bei einem großen Versandhändler, wie viele andere in der kleinen Plattenbausiedlung. Sie packt Pakete und stockt mit Hartz IV auf. Ihre 84-jährige Nachbarin kümmerte sich um Jeremy, als die Schulen im Frühjahr geschlossen waren. Für Paketpacker gibt es kein Homeoffice, und für ihre Kinder gab es anfangs keine Notbetreuung. Seit Corona sieht man viele Großeltern mit ihren Enkeln in der Siedlung. Schutz der Risikogruppen? „Hören Sie mir damit auf, die leben da oben doch in einer Blase“, winkt ein Bewohner des Mehrfamilienhauses ab, der gerade seine Enkelin betreut.

Die Schule belieferte Jeremy und seine Mitschüler im ersten Lockdown mit Lernmaterial. Jede Woche kamen dicke Papierstapel. Durch diese wälzte sich seine Mutter mit ihm abends nach der Arbeit. Die Grundschule hat sich darauf eingestellt, dass ärmere Familien höchstens über ein Smartphone verfügen. Das reicht für digitalen Unterricht nicht aus.

Schon lange vor Corona hatten arme Kinder schlechtere Bildungschancen als wohlhabende. Das ist bekannt. Das Fazit der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist nicht verwunderlich: Wem es an materiellen und personellen Ressourcen mangelte, wurde durch die Schulschließungen weiter abgehängt. Die Bundesregierung hielt mit einer halben Milliarde Euro dagegen. Davon sollten die Schulen digitale Endgeräte beschaffen, um sie bedürftigen Schülern ausleihen zu können. Das ist alles. Gegen drohenden Jobverlust, Zukunftsängste oder die Demütigung als „bildungsfern“ gibt es: nichts.

Als Corona begann, war Jeremy gerade ein halbes Jahr ein Schulkind. Plötzlich musste die Mutter nach der Arbeit mit ihm die Grundlagen des Schreibens, Lesens und Rechnens üben. Bis heute hat er dabei große Probleme. „Er wird wohl die zweite Klasse wiederholen müssen“, sagt sie. Der Junge rollt mit den Augen. „Schule ist doof“, findet er. Es sei „viel strenger als vor Corona“.

Es ist große Pause: Kinder stehen wie Spielfiguren mit Mund-Nasen-Schutz und Abstand auf dem Hof, jede Klasse für sich. Einige Jungs animieren sich gegenseitig mit Faxen, Mädchen hüpfen auf einem Bein von einer Betonplatte zur nächsten. Eine maskierte Aufsichtsperson achtet darauf, dass die Kinder einander nicht zu nahe kommen. Als die Pause zu Ende ist, stellen sich die Kohorten in Reih’ und Glied auf. Im Gänsemarsch geht es ins Schulhaus.

Das Dauerlüften hat die Räume ausgekühlt. Die Kinder dürfen ihre Jacken im Unterricht anbehalten. Nur die Masken durften sie zuletzt noch abnehmen. Während viele Behörden längst Luftfilter bekommen haben, sind Lüften und Masketragen das bisher einzig umsetzbare politische Konzept für Schüler. Der Vorschlag, Klassen zu teilen, dürfte in der Realität am seit vielen Jahren bekannten Lehrermangel scheitern.

„Niemand will einen Corona-Fall in der Einrichtung“, sagt eine Aufsichtskraft auf Nachfrage. Dann müssten Dutzende Schüler und Lehrkräfte in die Quarantäne. „Das würde alles schlimmer machen.“ Darum hält man sich akribisch an die Hygieneregeln. Der Deutsche Lehrerverband schätzte Anfang November, dass zu diesem Zeitpunkt mehr als 300.000 Schüler und rund 30.000 Pädagogen zu Hause isoliert waren. „Bei Quarantäne darf man nicht mehr draußen spielen“, weiß auch Jeremy. Er lebt mit seiner Mutter auf 47 Quadratmetern.

Quarantäne in der Platte

Was Quarantäne in einer kleinen Wohnung bedeutet, weiß die Mutter der fünfjährigen Mia und deren zweijährigen Bruder. In Mias Kita war mehrfach jemand positiv auf das Coronavirus getestet worden. Zum zweiten Mal kurz hintereinander sitzt die Einelternfamilie nun auf weniger als 60 Quadratmetern fest, zu Hause in einer bayrischen Stadt. Die Verkäuferin kämpft bei den Behörden um Entschädigung. Denn für gesunde Kinder gibt es nichts von der Krankenkasse. Ihr Jahresurlaub ist schon im Frühjahr für die Betreuung der Kinder draufgegangen. Sie fürchtet um ihren Job und hat schon errechnet, dass ihre Wohnung fast 100 Euro teurer ist als bei Hartz IV erlaubt.

Sie fühlt sich „am Ende meiner Kräfte“: „Es ist etwas anderes, mit einem sicheren Arbeitsplatz in einem Haus mit Grundstück festzusitzen, als mit unsicherem Job und zwei Kleinkindern in einer Miniwohnung“, erzählt sie am Telefon. „Die Kinder können nicht verstehen, warum sie nicht rausdürfen“, ergänzt sie und fragt rhetorisch: „Was ist, wenn immer neue Fälle in den Kitas auftreten oder wenn die Kinder Schnupfen haben – müssen wir dann den ganzen Winter eingesperrt hier sitzen?“

„Ihr Kind schafft das“, versuchte der Psychiater Jan Kalbitzer betroffene Eltern jüngst im Spiegel zu motivieren. Denn Kinder seien „zäh und anpassungsfähig“. Sein Vorschlag für Mütter und Väter? „Lieber mal durchatmen, statt Kinder hysterisch zu instrumentalisieren.“ Er bemühte noch den Vergleich mit Kriegskindern, die schwere Zeiten „mit genügend Urvertrauen“ überstanden hätten.

In den Medien wird über statt mit Kindern diskutiert. „Virologen kritisieren die Haltung der Länder, wonach Schulen keine Treiber der Pandemie seien“, hieß es in der FAZ vom 18. November. Drei Tage später klagte in derselben Zeitung eine Lehrerin aus Frankfurt am Main über zu lasche Maßnahmen in den Schulen und einen zu unbedarften Umgang der Kinder mit den Alltagsmasken. Sie wolle es nicht in Kauf nehmen, „vielleicht sogar zu sterben“. Man philosophiert, wie ansteckungsfähig und ansteckend Kinder in welchem Alter mutmaßlich sind – als handele es sich um lauter potenzielle Gefährder.

Mias Mutter empfindet derlei Debatten als „beleidigend“, „von oben herab“ und „realitätsfern“. Ihre Tochter frage sie bereits, ob Corona endlich vorbei sei, wenn sie nächsten Sommer in die Schule kommt. Sie fürchtet, dort nicht mit ihrer Freundin spielen zu dürfen. Die Mutter hat Angst, in Hartz IV zu rutschen und umziehen zu müssen.

Sozialverbände warnen seit Monaten, dass Corona den ärmeren Teil der Bevölkerung weiter abhängen werde. Im seinem neuen Armutsbericht berichtet der Paritätische Wohlfahrtsverband von einem Anstieg der Armut bereits im Jahr 2019. Mehr als jedes fünfte Kind lebt demnach unter materiellen Entbehrungen. Vor allem die Rechte dieser Kinder habe die Politik nicht geschützt, konstatierte der Magdeburger Kindheitswissenschaftler Michael Klundt im September bei einer Anhörung der Kinderkommission des Bundestages. Man habe Schutzbefohlene „wie Objekte behandelt“ und viele Mütter in alte Rollenmuster zurückgedrängt. Passiert ist seither nichts. Die Kinderkommission hat symbolischen Charakter – und der ideelle Gesamtpatriarch, der Staat, keine bessere Antwort auf die Pandemie.

Susan Bonath arbeitet als freie Journalistin in Sachsen-Anhalt u.a. zum Thema Sozialpolitik

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