Meine erste Reise nach Afrika liegt noch nicht lange zurück. Sie fand anlässlich einer Konferenz am Goree Institut im Senegal statt, die einberufen worden war, um afrikanischen, amerikanischen und europäischen Intellektuellen des öffentlichen Lebens die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch zu geben.
Von uns weit gereisten westlichen Intellektuellen war nur einer zuvor in Afrika gewesen, uns quälten Angst und Schuldgefühle. Die Angst entsprang weniger archaischen Bildern des dunklen Kontinents als den Warnungen der Ärzte, die zumindest einen Teilnehmer der Reise so mit Prophylaxe-Medikamenten vollpumpen wollten, dass er sich die Chancen, bereits halbtot in Afrika anzukommen, höher ausrechnete, als die, sich tatsächlich in Afrika Malaria einzufangen.
Mit unserer Ankunft auf einer der schönsten tropischen Inseln der Welt, Goree Island, jedoch löste sich unsere Angst in Luft auf. Unser Schuldgefühl hingegen verdoppelte sich. Denn uns wurde deutlicher denn je, dass wir nicht nur reich waren, sondern ignorant. Unsere afrikanischen Gegenüber hatten alle im Westen studiert oder gelehrt, im Regelfall sogar beides, während wir nicht mehr Wissen über ihren Teil der Welt mitbrachten, als wir aus Reiseführern oder dem ein oder anderen südafrikanischen Roman mitbekommen hatten. Was nur konnten wir tun, um den Umstand zu rechtfertigen, dass eine Stiftung uns Tickets ins Paradies bezahlt hatte, statt das Geld Kindern in den Slums von Dakar zu spenden?
"Erzählt uns von Kant", sagte ein sehr schwarzer Mann in einem sehr weißen Kaftan. Dümmlich starrte ich den Mann, der mir als Richter am Obersten Senegalesischen Gerichtshof vorgestellt worden war, über den Tisch hinweg an. "Ihr Europäer solltet aufhören, so verdammt bescheiden zu sein", fuhr er fort, seinen Blick auf mich richtend. "In Ihrem Lebenslauf steht, Sie beschäftigen sich mit Kant. Hat er uns nichts über unsere Friedensbemühungen hier zu sagen?"
Hat er das? Ich war doch nicht in den Senegal gekommen, um darüber zu reden. Plötzlich aber wurde mir klar, dass aus Dakar´scher Sicht viele Dinge, die uns selbstverständlich erscheinen, noch glänzen wie Schätze, und dass es ein enormes Verlangen gibt, an diesem intellektuellen Reichtum teilzuhaben. Ein Verlangen, das im besten Fall mit Vertrauen in den Wert der eigenen Traditionen, aber auch dem Bewusstsein ihrer Grenzen einhergeht. Dies allein ist eine Einstellung, von der wir lernen, und von der wir einen Teil mitnehmen könnten.
Das Beispiel war zwar das Eindrücklichste, das ich in jüngster Zeit erlebt habe, mitnichten aber das einzige. Die Tugenden der Aufklärung rücken dort besonders in den Blickpunkt, wo sie am stärksten gefährdet sind. In Westeuropa und den Vereinigten Staaten, wo ihre Errungenschaften weit verbreitet sind, sind sie nicht mehr offenkundig als solche erkennbar. Selbstkritik ist zu automatisierter Selbstverurteilung geworden. Wir vergessen, in welch hohem Maße wir unsere Lebensweise der Bewegung zu verdanken haben, deren Schwächen wir beklagen.
Die Themenvorschläge auf der Einladung zu dieser Veranstaltung waren vorsichtig formuliert, um jeden Anschein von Polemik zu vermeiden. Ich werde nun weniger zurückhaltend sein: Ich glaube, die westliche Moderne, beginnend mit der Aufklärung, bedarf entschlossenerer Verteidigung als die, zu der sich der Westen bislang durchringen konnte.
Mehr als dies in nicht-westlichen Gesellschaften der Fall ist, stellt der Westen seine eigenen Ursprünge an den Pranger: Die Aufklärung wurde schon als Ursprung des Faschismus, des Imperialismus, des Kommunismus, des Kolonialismus, ja, in einer besonders bizarren Anschuldigung, die ich vor einigen Jahren in einem Interview in der Zeit las, sogar als Ursache des Hurrikans Katrina bezeichnet. Die schwersten Geschütze fahren die deutschen Denker der Nachkriegszeit auf. Heidegger und Adorno war höchstens ihre abgrundtiefe gegenseitige Abneigung füreinander gemein, sonst aber waren sie in ziemlich Allem unterschiedlicher Meinung. Beide jedoch legten der Aufklärung die Schuld für den Faschismus zur Last. Kurz gesagt: Will man zeitgenössische Denker jeder Couleur vereinen, braucht man bloß die Aufklärung als, im günstigsten Falle, überholt zu erklären.
Es wäre töricht, die Versäumnisse der Aufklärung zu bestreiten, Kritik an ihr sollte jedoch als Aufruf zu ihrer Vervollkommnung formuliert werden. Um die wichtigsten Beispiele zu nennen: Die Forderungen nach Einbezug von Frauen und nicht-europäischen Männern gründen sich doch auf eben dem Universalismus, dessen Verfechterin die Aufklärung war. Derartige Beispiel hätten die Aufklärung stärken können, indem sie zeigen, dass sie mithilfe des ihr immanenten Werkzeugs, der Selbstkritik, die Kraft hat, ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu korrigieren. Was als der Triumph der Aufklärung gelten könnte, wird als Anzeichen ihres Versagens gedeutet, und diejenigen, die die Aufklärung hätten verbreiten sollen, beteiligten sich an ihrer Auslöschung.
Die wichtigsten Vorwürfe lauten erstens: Die Aufklärung ging davon aus, der Mensch sei von Natur aus gut und verfüge über die unendliche Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung. Zweitens: Die Aufklärung ging, in arroganter Überschätzung des Intellekts und Unterschätzung der Emotionen, davon aus, dass jedes Problem durch den Verstand gelöst werden könne. Drittens: Der Aufklärung war nichts heilig, sie entweihte alles. Viertens: Wenn die Aufklärung überhaupt etwas anbetete, dann war es die Technik, von der sie annahm, sie könne sämtliche Probleme beseitigen. Doch diese, statt den als zwangsläufig betrachteten Fortschritt zu bringen, führte direkt zu Auschwitz
Jean Améry, der Auschwitz überlebt hatte, schrieb kurz vor seinem Tod, die einzige Hoffnung, die der Barbarei entgegengesetzt werden könne, sei "der wohlwollende Optimismus der Aufklärung, mit ihren beständigen Werten der Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit und Wahrheit". Er wusste, dass kein Zeitalter sich der Existenz des Bösen bewusster war, dass kein Zeitalter die menschlichen Grenzen und Begrenzungen mehr auf die Probe stellte.
Die Aufklärung bekämpfte nicht die Ehrfurcht, sondern Götzendienst und Aberglauben. Sie glaubte nie, dass Fortschritt unabdingbar sein, sondern hielt ihn lediglich für möglich. Ganz bestimmt lassen sich Zitate aus dem 18. Jahrhundert finden, die diese Behauptungen in ihrer unausgereiftesten Form belegen. Aber zweitklassige Gedanken lassen sich zu jedem Thema finden. Betrachtet man die besten Denker der Aufklärung, ergibt sich ein ganz anderes Bild.
Auf dem Platz, der uns hier zur Verfügung steht, ist eine Verteidigung der Aufklärung nicht möglich, aber ich würde gerne ein paar Argumente skizzieren, die eine solche Verteidigung enthalten muss. Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, wogegen sich die Aufklärung gewandt hat, denn man vergisst leicht ihre Errungenschaften, die wir heute für selbstverständlich halten. Die Aufklärung wandte sich gegen den Aberglauben. Noch im 17. Jahrhundert wurden Hexen verbrannt und selbst im liberalen Holland konnte es einen für lange Zeit ins Gefängnis bringen, die Existenz des Teufels zu leugnen.
Der Aberglaube war auch für weniger drastische Formen der Bestrafung verantwortlich. Der Glaube, Naturkatastrophen seien die Folge moralischer Verfehlungen führte dazu, dass die meisten Leute Krankheit und Armut als gerechte Strafen betrachteten: Wenn du leidest, dann musst du auch gesündigt haben. Bemühungen, Krankheit und Armut zu bekämpfen, wurden daher weniger von den technischen Möglichkeiten eingeschränkt, als von dem Glauben, dieser Kampf verletze die göttliche Ordnung.
Neben dem Aberglauben wandte sich die Aufklärung gegen die Folter. Vor drei Jahrhunderten hätten diejenigen von uns, denen sich heute bei den von Foucault beschriebenen Szenen der Magen umdreht, hohe Preise dafür bezahlt, die besten Plätze zu erhalten, einer Hinrichtung durch Vierteilen beizuwohnen - und das im Herzen der europäischen Zivilisation.
Zur selben Zeit sprach sich die Aufklärung gegen die Vererbung von Privilegien aus. In einer Welt, in der die Menschen unabhängig von Talent oder Neigung zumeist den Beruf ergriffen, den schon ihre Eltern ausübten, waren die Forderungen der Aufklärung nach Chancengleichheit Forderungen nach grundsätzlicher Gerechtigkeit. Noch wichtiger war die Möglichkeit, von Leuten regiert zu werden, deren Herrschaftsanspruch sich zumindest annähernd durch Leistungen und Verdienste legitimieren konnte. Die Tatsache, dass immer noch Ämter ge- und verkauft werden, bedeutet nur, dass noch mehr Anstrengungen von Nöten sind. Vor der Aufklärung könnte man die Forderungen nicht einmal artikulieren können - geschweige denn die Entrüstung darüber, dass sie nicht erfüllt sind.
Alle empirischen Untersuchungen des fundamentalistischen Terrorismus haben die materialistischen Erwartungen widerlegt: Bei den jungen Leuten, auf die der Fundamentalismus eine hohe Anziehungskraft ausübt, handelt es sich nicht um die Verdammten dieser Erde, sondern um Leute aus der Mittelschicht, mit bester Ausbildung und idealistischer Haltung. Sie werden vom Fundamentalismus angezogen, weil dieser ihnen Werte bietet, welche in der vom Konsum bestimmten westlichen Kultur nicht ohne Weiteres zu haben sind. Mit der Betonung formaler Werte wie Toleranz lassen sich Leute, die konkretere Wertvorstellungen brauchen, nicht erreichen. Um diese Bedürfnisse zu befriedigen, müssen wir das moderne Bekenntnis zu und den Anspruch auf Glück, Vernunft, Ehrfurcht und Hoffnung verstehen.
An erster Stelle steht die aufklärerische Vorstellung, die Menschheit habe ein Anrecht auf Glück. Mit der Weigerung, alle Hoffnung an den Himmel zu richten, wurde die Vorstellung des Glücks selbst verändert. Das Glück der Aufklärung ist ein durch und durch aktives Glück, ein Teil des Lebens, in dem die Menschen das bekommen, was sie verdienen. Wie viele Werte der Aufklärung kann ihr Eintreten für das Glück auf das Prinzip des hinreichenden Grundes zurückgeführt werden. Die Vernunft der Aufklärung hat wenig mit Logik, Mathematik oder instrumenteller Berechnung zu tun. Sie stellt eher das Beharren darauf dar, dass die Welt sinnvoll sein soll.
Keine Autorität und keine Mystik sollte uns einschüchtern; unser Recht zu verstehen, speist sich aus derselben Quelle wie unser Recht darauf, glücklich zu sein. Nach Vernunft zu verlangen, bedeutet indes nicht, alles andere zurückzuweisen. Die Aufklärung vertrat nie die Ansicht, die Ausbildung der Vernunft dürfe die Leidenschaften außer Acht lassen, und widmete sich der Erforschung beider mit gleicher Hingabe.
Überraschender dürfte der Einsatz der Aufklärung für die Ehrfurcht sein. Sowohl Kritiker als auch Verteidiger der Aufklärung haben ihre Haltung zur Religion oft falsch interpretiert. Religiöse Institutionen gaben den Vertretern der Aufklärung viel Anlass zur Kritik, doch mit dem römischen Rat "Bewundere nichts" hatte sie nichts im Sinn. Ihr wissenschaftlicher Geist sollte unsere Ehrfurcht vor der Schöpfung nicht untergraben, sondern vielmehr vertiefen. Ehrfurcht wirkt Überheblichkeit entgegen und fördert Dankbarkeit. Egal, was man für den Ursprung der Schöpfung hält, ist sie ein Geschenk, das man in Ehren halten sollte.
Der letzte Wert, den ich erwähnen möchte, ist die Fähigkeit zu hoffen. Sie ist eine Tugend, denn sie kommt selten ohne Anstrengung; die Aufklärung wusste nur zu gut, wie hart das Leben sein kann. Kein ernstzunehmender Vertreter der Aufklärung hielt den Fortschritt für zwangsläufig. Doch weigerte man sich zu glauben, der Niedergang sei unvermeidlich.
Wie die Regierung von George W. Bush uns gezeigt hat, ist die Abschaffung der Folter, ein Zeichen des Fortschritts, weder sicher noch unumkehrbar. Ob die Menschheit sich nach vorne entwickelt oder zurück, hängt entscheidend von uns selbst ab. Das konservative Beharren, wir seien unwiederbringlich dem Verfall geweiht, ist indes eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch von Natur aus verderbt und schlecht ist, wird man selten mehr unternehmen, als den Kopf zu schütteln.
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Holger Hutt und Zilla Hofman
Susan Neiman, geboren in Atlanta, ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Sie studierte Philosophie in Harvard und Berlin und lehrte in Yale und Tel Aviv. Der hier abgedruckte Text ist die Kurzfassung einer Rede, die Neiman auf Einladung von Bundespräsident Horst Köhler während eines Gesprächskreises zum Thema "Vielfalt der Moderne - Ansichten der Moderne" am 8.Juli im Berliner Schloss Bellevue hielt. Diese Überlegungen werden ausführlich in ihrem neuen Buch Moral Clairty. A Guide for grown up Idealists behandelt. Zuletzt erschien von ihr in Deutschland 2006 das Buch Das Böse denken.
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