In den achtziger Jahren genügte es, jenseits der gelb ausgeschilderten touristischen Ameisenstraße unterwegs zu sein, um die Stille Venedigs zu erleben – oder ihre Unterbrechung durch Rufe der Bootsleute, hämmernde Handwerker, Schritte der Passanten. Das Venedig der Venezianer gab es noch. Damals machte man sich in der Stadt Gedanken, wie der Touristenstrom von vier Millionen im Jahr zu lenken wäre, damit er nicht zerstörte, was ihm widerfahren sollte: das Erleben der einmaligen Atmosphäre eines Kulturerbes, das zu den schönsten der Welt gehört.
Das war 1980 – 30 Jahre später drängen sich 22 Millionen Touristen durch Gassen, über Plätze und Brücken und in die Vaporetti, die den Canal Grande pausenlos durchquerenden Dampfer. Nur Wintermonate sind noch weitgehend den Venezianern vorbehalten, deren Zahl in der Altstadt inzwischen auf unter 60.000 geschrumpft ist. Einst waren es über 170.000, die dort lebten, wo die alten Stadtveduten von Carpaccio bis Canaletto entstanden. Inzwischen wird die Altstadt immer mehr zur touristischen Kulisse, zu einem von normalen Aktivitäten entleerten Freilichtmuseum, jenem oft prognostizierten Disneyland, dessen Angebot und Strukturen nur noch auf Touristenkonsum reduziert sind.
Erzwungene Abwanderung
Der Exodus aus der Altstadt und die davon ausgelöste soziale Zäsur sind keine neuen Phänomene, sie beruhen auf dem Bestreben, viele Aktivitäten auf das Festland zu verlagern, dessen Industrien einst bis zu 50.000 Arbeiter beschäftigten (heute gerade noch 12.000). Abwanderung und Auszehrung haben viel mit permanent steigenden Immobilienpreisen zu tun. Einen normalen Wohnungsmarkt gab es in Venedig nie. Eigentümer überließen ihre möblierten Wohnungen dem gastierenden Fremden immer schon zu Mietpreisen, die kein Normalverdiener bezahlen konnte. Junge Familien mussten aufs Festland ausweichen, wo sich die Stadtteile der Gemeinde Venedig seit Jahrzehnten unförmig aufblähen. Heute leben dort 250.000 Menschen, von denen noch gut 20.000 täglich in die Altstadt zur Arbeit pendeln: Der Barbier, der Zeitungsmann, der Schuster oder der Gemüsehändler stehen jeden Morgen früh auf, um in überfüllten Autobussen den Piazzale Roma und danach zu Fuß ihre Läden zu erreichen. Arbeitsplätze außerhalb der Tourismusbranche gibt es kaum, auch Behörden, Werkstätten und Hospitäler werden aufs Festland verlagert. Nur die Universitäten in der Altstadt behaupten sich.
Nennenswerte Maßnahmen gegen diese Entwicklung sind von den Mitte-Links-Koalitionen, die in einer von Rechtsparteien beherrschten Region die Stadt Venedig bisher regiert haben, nicht getroffen worden. Bei den Kommunalwahlen am 28./29. März könnte nun die zuletzt von dem Philosophen Massimo Cacciari drei Amtszeiten lang geführte Stadtregierung ausgesorgt haben. Nachfolge-Kandidat Orsoni, ein Jurist und ehemaliger Christdemokrat, tritt gegen den machtbesessenen Berlusconi-Minister Brunetta an. Sollte der triumphieren, wird eine fortschreitende Deregulierung kaum aufzuhalten sein, der es gefällt, den Touristenstrom noch weiter anschwellen zu lassen.
Eine Stadt versinkt
Am 2. März stellte die venezianische Sektion von Italia Nostra, der ältesten Vereinigung zur Bewahrung von Geschichte, Kunst und Natur auf der Apenninen-Halbinsel, ihr jüngstes Dossier über „untragbare Entwicklungsperspektiven Venedigs“ der Presse vor. Bereits die erste vergleichbare Expertise aus dem Jahr 1997 ließ keinen Zweifel, dass man sich dringend dem überbordenden Verkehr, einem umweltgeschädigten Festland und einem intelligenten Tourismus-Konzepts im centro storico widmen müsse. Seither sind 13 Jahre vergangen und gegen die Projekte der großen Konsortien, die ihre Hände auf die Stadt gelegt haben und der Berlusconi-Partei Popolo della Libertà nahe stehen, ist nichts unternommen worden. Immer mehr Touristen sollen immer schneller hin- und her transportiert werden, besonders zu möglichen Großereignissen der nächsten Dekade. Als ob eine Stadt wie Venedig „Attraktionen“ wie die jetzt anvisierte Ausrichtung der Olympischen Spielen 2020 brauchen würde! Um sich aussichtsreich darum bewerben zu können, hat der Stadtrat soeben die Planung von Tessera-City gutgeheißen. Sie gilt Sport- und Freizeitanlagen, für deren Bau – im Umfeld des Flughafens und einer bisherigen Agrarzone – mehr als zwei Millionen Kubikmeter Zement bewegt werden müssen.
Zugleich soll von Tessera 20 Meter unter der Lagune eine acht Kilometer lange Metro (sublagunare) vorangetrieben werden, ein vom Stadtrat bereits 1999 abgesegnetes Mammut-Projekt, das die Touristen vom Flugplatz direkt zu den Hauptattraktionen befördert – nach Murano, zum Arsenale und bis zum Lido. Wer einmal mit dem Boot vom Airport nach San Marco gefahren ist, der ahnt, was künftigen Besuchern entgeht.
Dabei wissen alle Venezianer: Schon die mit der Industrieansiedlung vorgenommenen Eingriffe in das sensible Hydro-System, als Fahrrinnen für Riesentanker ausgebaggert wurden, haben dem natürlichen Gleichgewicht der Lagune geschadet und das acqua alta verstärkt. Heute werden durch den Giudecca-Kanal und das Becken von San Marco mit dem schönsten Blick auf die Ufer der Stadt jährlich bis zu 500 Kreuzfahrtschiffe geschleppt. Wahre Monster, 50 Meter hoch und 300 Meter lang, von denen jedes so viel Kohlendioxid ausstößt wie 15.000 Pkw. Die erwähnte Metro wurde 2004 in Berlusconis Liste großer öffentlicher Bauvorhaben aufgenommen, zu denen auch das Projekt gehört, die Lagune durch riesige mobile Betonbarrieren vor Hochwasser zu schützen. Die Vorarbeiten haben begonnen, obwohl das Projekt noch heftig umstritten ist. Doch was ändert das – es wurde Venedig von einem mächtigen Firmenkonsortium durch eine Prozedur aufgezwungen, die gesetzliche Auflagen umgeht und Finanzmittel bindet, wie sie zum Erhalt der Altstadt anderweitig dringend gebaucht würden.
Somit versinkt Venedig immer mehr. Nicht in den Fluten, die bei Scirocco-Wind vom offenen Meer in die Lagune drängen, sondern im Dschungel privater Interessen, die Charisma und Reputation der Stadt zum Marketing-Objekt degradieren. Venedig wird von Italien und vom Desaster einer auch lokal ausufernden Regierungspolitik eingeholt, die seit mehr als 20 Jahren ohne gesamtgesellschaftliche Perspektive einem individuellen „Enrichez-vous“ frönt. Die oftmals kriminellen Konsequenzen heißen Klientelismus und Korruption. Sie sorgen für immer groteskere, immer demoralisierendere Schlagzeilen. Viele Venezianer fliehen in Anpassung und Resignation. Und das gerade jetzt vor der Kommunalwahl, wenn höchstes Engagement nötig wäre, um zu verhindern, dass die Stadt in ein kulturfernes Aus gerät.
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