"Ciao, sono io ..."

KEHRSEITE An sich ist es leicht, von Colleferro nach Rom zu gelangen. Ab sechs Uhr am Morgen bis 22 Uhr am Abend verkehrt laut Fahrplan halbstündlich ein Zug, ...

An sich ist es leicht, von Colleferro nach Rom zu gelangen. Ab sechs Uhr am Morgen bis 22 Uhr am Abend verkehrt laut Fahrplan halbstündlich ein Zug, der gut eine Stunde später dort eintrifft.

Der Zug, der um sieben Uhr dreißig am Morgen aus Neapel kommend Colleferro mit Rom verbindet, ist noch schneller. Wenn er - man meint zu diesem Zeitpunkt die Kuppel des Petersdoms schon erspäht zu haben - plötzlich stehen bleibt, muss man sich weder sofort noch grundsätzlich Sorgen machen. Verdächtig wird es erst, wenn die Mitreisenden, die offenbar jeden Morgen von Colleferro nach Rom fahren, ihr Handy herausholen. Die standardisierte Einleitungsformel für die Mitteilung eines längeren, ungeplanten Zwischenstopps scheint zu lauten: "Ciao, sono io."

Wenn die Mitreisenden dann auch noch aussteigen, um sich eine Zigarette anzuzünden und sich am Bahnsteig weiter zu unterhalten, muss ein Mensch, der keineswegs jeden Morgen von Colleferro nach Rom fährt, beginnen, sich, wenn schon keine Sorgen, immerhin Gedanken zu machen. Sobald im Lautsprecher verkündet wird, der treno habe im Moment keine linea, kann man sich, wenn man kein Handy hat, getrost die zweite Zigarette anzünden.

Und dann ertönt aus dem Lautsprecher die Mitteilung, die Reisenden sollten sich auf den Bahnhofsvorplatz begeben, wo sie ein Schienen-Ersatzverkehr erwarte. Jetzt erst nimmt man wahr, dass der Bahnhof des kleinen Ortes Ciampino über zwei Bahnsteige verfügt, und dass sich von beiden freundliche, geduldige und ungerührte Menschen Richtung Bahnhofsvorplatz in Bewegung setzen. Dort angelangt greifen sie erneut zu ihrem Handy. "Ciao", sagen sie, "sono io".

Dann passiert lange Zeit nichts.

Bis die Menschen auf den Bahnhofsvorplatz strömen, die einen späteren Zug genommen haben und meinen, hier in einen Schienenersatzverkehr umsteigen zu können.

Dann passiert wieder lange Zeit nichts.

Schließlich kommt ein schicker Alfa Romeo, in dem ein Carabiniere sitzt, auf den Bahnhofsvorplatz gefahren. Dem Alfa Romeo fallen vom bahnhofsvorplatzeigenen Kastanienbaum ein paar Kastanien aufs Dach. Der Carabiniere steigt aus und schaut drohend in die Menge. Die lacht, denn der Carabiniere, der offenbar geglaubt hat, einer aus der Menge habe ihm mit der Faust drohend aufs Alfa Romeo-Dach getrommelt, sieht lächerlich aus. Dann passiert, abgesehen davon, dass die meisten sich unterhalten und einige immer wieder telefonieren, lange Zeit nichts.

Endlich kommt ein Autobus. Auf dem Bahnhofsvorplatz von Ciampino, auf dem mittlerweile um die vierhundert Leute freundlich und geduldig auf den Schienenersatzverkehr warten, versucht ein Fahrer für seinen Autobus, der bestimmt 30 Leute transportieren könnte, einen Parkplatz zu finden. Als die Menge lacht, stellt er den Motor seines Autobusses ab, verriegelt die Türen und verschränkt ostentativ die Arme auf dem Lenkrad. Der Carabiniere verhandelt mit dem Autobus-Chauffeur.

An sich geriete nun in den Schienenersatzverkehr einige Dynamik, aber der Bahnhofsvorplatz wird von der Bahnhofseite her von den Menschen aus dem nächsten treno, der hier keine linea mehr hat, überflutet, und von der Straße her versucht der nächste Autobus, der wieder 30 Leute transportieren könnte, einen Parkplatz zu finden. Der Stau wird noch schlimmer, als die Verstärkung eintrifft, die der Carabiniere angefordert hat.

Als der dritte Autobus kommt, hat eine ältere Frau die Geduld verloren und stellt sich so vor den zweiten Bus, dass der nicht abfahren kann. Ein Mann, der aussieht, als arbeite er auf dem Finanzamt, schließt sich ihr an. Als der zweite Autobus sich den Weg durch die lachende Menge bahnt, droht der Mann, der aussieht, als arbeite er beim Finanzamt dem Carabiniere, dem die Kastanien auf das Dach seines Einsatz-Fahrzeuges gefallen sind, er werde einen Leserbrief an das Giornale Sowieso schreiben. Einer der Verstärkungs-Carabinieri kann dem dritten Autobus keine freie Fahrt gewähren, weil sich ein überzähliger Passagier weigert, auszusteigen. Die ältere Frau, die auch im dritten Autobus keinen Platz ergattert hat, weint. An ihrer Stelle regt sich jetzt ein junger Mann mit Punkfrisur auf. Für kurze Zeit sieht es so aus, als geriete er mit dem anderen Verstärkungs carabiniere in ein Handgemenge, aber dann entschließen sie sich beide, die ältere Frau zu trösten.

Nun trifft der vierte Autobus ein. Der kann endgültig nicht mehr auf den Bahnhofsvorplatz einfahren, denn mittlerweile ist wieder ein Zug angekommen, aber noch während der Kastaniencarabiniere auf der Straße vor dem Bahnhofsvorplatz für den geregelten Einstieg in das Schienenersatzfahrzeug sorgt, ertönt aus dem Lautsprecher die Durchsage, die Züge Richtung Rom hätten linea.

Die Menge begibt sich lachend Richtung Bahnsteig. Einige greifen sofort zum Handy. "Ciao", sagen sie, "sono io."

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