Sie schwebt frei

WAAGRECHTES DENKEN Angela Krauß' Erzählung »Sommer auf dem Eis«

Verena Auffermann urteilte einmal, Angela Krauß führe die Schräglage der Welt als Gleichgewichtsübung vor. Das gilt auch für ihr neuestes Buch. Während weniger Stunden eines Sommernachmittags, die die Protagonistin auf einer zerschlissenen Decke dösend neben einem Geliebten verbringt, breitet sie ein Leben vor uns aus. Vielleicht sogar mehrere Leben. Ähnlich einer mit Schlittschuhen kunstvoll aufs Eis gezogenen Acht, deren Gelingen nicht garantiert, deren Symmetrie bedroht ist, scheint der Zusammenhang der sechs Kapitel unterschiedlicher Länge in dieser Erzählung lose, die Bögen entstehen nach und nach, einige geben sich erst zum Schluß zu erkennen. Auch das Leben oder Bruchstücke davon, die an einem heißen Sommertag an der Protagonistin vorbeiziehen, unterliegen wiederkehrenden Einbrüchen des Chaos, gegen die sie - so wie die meisten Menschen in ihrem Harmoniestreben - dauernd ankämpft und sich stets als Verliererin wiederfindet. In der zur Trägheit verführenden Hitze verkommen ihr die Träume zu Alpträumen.

Die Übergänge zwischen den Ebenen sind fließend, ebenso die Grenzen zwischen einigen Figuren, zumindest zwischen der Ich-Erzählerin, der Eisläuferin und der die Frau genannten. Einerseits hält das die Schwebe des gesamten Erzählstroms aufrecht - und in dieser Schwebe liegt durchaus einige Anziehungskraft -, andererseits entsteht dadurch ein Eindruck von Beliebigkeit, und manche Brüche erscheinen mehr künstlich als kunstvoll. Das Verfahren der Vielschichtigkeit, ein selbstverständliches Nebeneinander von Halbschlaf, Erinnerung, Traum, Phantasie kippt dann plötzlich zu einer scheinbar realen Gegenwärtigkeit, die als solche zu absurd, als Alptraum zu vernünftig ist. Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin sind die Gleichzeitigkeit philosophischer Erwägungen und der Widerhall von Dialogen, die sie auf dem Arbeitsamt aufgeschnappt hat, gelungen und ergeben ein Ganzes, während die späteren Szenen in sich witzig, gelehrt, ja höchst tiefsinnig sein mögen, aber dennoch dem Gesamtkontext merkwürdig unverbunden bleiben. Sie wirken aufgesetzt, transportieren Botschaften, anstatt sie zu erzählen.

Wie sagt die Ich-Erzählerin selbst so schön, während sie auf der Decke liegend sich ihrem »waagrechten« Denken hingibt? - »Im Moment habe ich alle Versuche eingestellt, mir das Leben zu erklären.« Sie betrachtet das Leben, betrachtet die schwitzenden Knöchel des Geliebten, die kleinen bohnenförmigen Käfer, die Grasrispen erklimmen, und schwimmt herum »in einem Meer von Gewesenem, Seiendem und Werdendem«. Ihr erster Kuß, ausgetauscht mit einem Pionier der kommunistischen Jugend Italiens »in jenem Jahr, in dem die Karbolfabrik explodierte« und karg geschildert, läßt Welten entstehen. Im waagrechten Denken, also im waghalsigen Bewußtsein der letztlichen Einsamkeit jedes Einzelnen und dem gelassenen Ertragen dieser bestürzenden Einsicht sind die bedeutungsschweren Sätze der Ich-Erzählerin von solch poetischer Leichtigkeit, daß man lesend meint, das Zirpen der Grillen zu hören, und daß man ihr glückliches Erstaunen - »Es war im Grunde nicht notwendig, daß es mich gab« - glücklich-erstaunt zur Kenntnis nimmt. - »Vor einer Woche hätte mich dieser Gedanke endgültig in den Abgrund gestoßen. Jetzt flutete er durch meine Zellen wie reiner, eiskalter Brand von Himbeeren. Es war nicht notwendig, daß es mich gab.«

Eine Figur ist noch zu erwähnen: die Kesselwärterin von Bitterfeld. Sie hat am Anfang der Erzählung noch zehn Sekunden, am Ende nur noch eine. Sie ist dem Ablauf des Nachmittags auf der Decke absolut unverbunden. Sie schwebt frei, man weiß nicht recht: als Metapher(?) darüber und doch ist sie ihm unentbehrlich, hält in der nur knappen Chronik ihres angekündigten Tods die Balance zum Glück an der Seite des Geliebten. Sie ist, wie vieles in dieser Erzählung, perfekt. Gerade deshalb wirkt der Touristenhaufen auf dem ominösen Schiff umso befremdlicher, die Gespräche, das Gerede umso hohler. Um es mit den Worten der Ich-Erzählerin zu sagen: Es war nicht notwendig, daß es sie gab. Aber glücklicherweise können sie den Zauber, der von der »lappig blau-grau karierten, mit einem Kreuzstich aus Perlgarn gesäumten Decke« ausgeht, nicht zerstören.

Angela Krauß: Sommer auf dem Eis. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1998, 103 Seiten, 28,- DM

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