Wie ein Mönch reinigen

AUF STALINS SPUREN Richard Louries atemberaubend spannende, fiktive Biografie des Diktators

Als man Trotzki einmal gefragt hat, wie der geniale Stratege und große Redner die Macht an einen ungeschliffenen Hinterwäldler wie Josef Stalin habe verlieren können, hat er erwidert, er habe es nicht ertragen können, mit der neuen Machtelite zu verkehren: "Ich konnte mir diese Langeweile einfach nicht antun." Historiker werden noch in ferner Zukunft dicke Bücher schreiben und zu ergründen suchen, warum Trotzki nach Lenins Tod den Machtkampf gegen Stalin verloren hat. Sie werden Dutzende, gar Hunderte von Erklärungen finden, doch es gibt im Grunde nur eine: Trotzki hat Langeweile gehasst, und Stalin hat sie geliebt.

So lächerlich diese These aufs erste klingen mag, so logisch und glaubhaft erweist sie sich innerhalb des Geflechts dieser "geheimen Aufzeichnungen des Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili". Denn Richard Lourie hat seinen Stalin-Roman von der Innenperspektive des Protagonisten her angelegt, und dadurch ist der Tagebuchschreiber der Verpflichtung enthoben, seine Taten oder deren Motivation zu beschönigen. Diese "erfundenen" Passagen, so monierte ein Rezensent, zeigten Stalin eher als de Sadeschen Bösewicht, denn als politischen Großverbrecher. Und überdies sei der absolut teuflische Mensch heute als literarische Figur kaum noch von Interesse. Gerade diese letzte Aussage kommt mir sehr bedenklich vor, davon abgesehen, dass es eben Louries Stärke ist, Stalin als absolut kühl kalkulierenden Egomanen und Machtmenschen zu vermitteln, der weit davon entfernt ist, metaphysischen Kategorien die geringste Beachtung zu schenken, es sei denn, sie wären ihm einem Idioten gegenüber, der an solchen Unsinn glaubt, von Nutzen.

Stalin weiß, was er von seinem "Held", seinem "Vorbild", seinem "Rivalen", Iwan dem Schrecklichen, gelernt hat: In einem Konflikt wird immer der den Sieg davon tragen, der das größte Maß an Grausamkeit am intelligentesten einsetzt. Stalin betrachtet und studiert die Wirkung von Foltermaßnahmen nicht um des Lustgewinns Willen. Die Qual oder Vernichtung seiner Opfer ist eine Notwendigkeit auf dem Weg zu seinem Ziel. Nicht mehr und nicht weniger. Aus seiner Sicht weder böse noch gut. Bezeichnenderweise sieht er auf nationaler Ebene vollkommen gelassen ein, dass Trotzki allen Grund hat, ihn zu zerstören. Ein Grund mehr, den Widersacher möglichst schnell loszuwerden.

So entwickelt sich parallel zum "Binnengeschehen" - den intimen Überlegungen rund um den Mord an Trotzki - in Rückblicke verpackt die Vorgeschichte des Mords, mithin also die Lebensgeschichte des Mörders von seiner Geburt bis 1940. Durch die nahtlose Verflechtung historischer Details und fiktiver Reflexionen entsteht neben der Biografie des Diktators Stalin das Psychogramm eines Diktators namens Stalin. Zusammen ergeben sie die fiktive Autobiografie des J. W. Dschugaschwili, von der Literatur-Nobelpreisträger Czeslaw Milosz nach dem Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe sagte - "Ich konnte nicht aufhören, obwohl ich Alpträume davon bekam." - und ein Rezensent bei Radio NPR in San Francisco vermutete: "Natürlich ist anzunehmen, dass Stalin niemals ein so freimütiges Schriftstück hätte verfassen können. Das konnte so überzeugend nur ein Schriftsteller von Louries Rang schaffen." Dass Trotzki seinerseits an einer Stalin-Biografie arbeitete und dass Stalin mittels eines Heeres von Spionen an das Material herankam, ist historisch belegt. Ob seine Gedankengänge bei dieser Lektüre bis ins Letzte stimmen, ist zweitrangig, dass sie stimmig sind, ist entscheidend. Der Einwand, einer dermaßen finsteren historischen Gestalt sei allenfalls durch eine literarische Reportage, niemals aber durch einen Roman beizukommen, basiert auf der reichlich naiven Überzeugung, allein das wörtliche Zitat, eine belegbare Aussage bürge für die authentische Darstellung des Zitierten.

In diesem Fall verhält es sich jedenfalls so, dass genau die feine Balance zwischen der Figur und dem Diktator, dessen Lebensdaten und Missetaten ja als einigermaßen bekannt vorausgesetzt werden dürfen, jene atemberaubende Spannung schafft, von der Czeslaw Milosz spricht. Und natürlich gehört eine Portion Witz und Respektlosigkeit dazu, daraus einen Roman zu schaffen, der vordergründig unspektakulär, aber sehr überzeugend einen Werdegang nachzeichnet, der zwangsläufig und schlüssig in Verbrechen mündet.

Glaubwürdig ist das Psychogramm des Verbrechers, weil es nie psychologisiert. Alpträume bekommt man, weil es eindeutig aussichtsreich ist, das größte Maß an Grausamkeit am intelligentesten einzusetzen, weil die Fähigkeit, zur Not mehr und immer noch mehr Stumpfsinn zu ertragen, dazu befähigt, dumpfe, rachsüchtige Kampfgefährten zu gewinnen und mit entsprechenden Posten zu entschädigen, um sie später gegen bolschewistische Bücherwürmer, die doch wahrhaftig noch Irrsinnigkeiten wie Idealen nachhängen, auszuspielen.

Langeweile zu ertragen, bedeutet vor allem: Einsamkeit zu ertragen, sich wie ein Mönch reinigen, von alten Bindungen freimachen, und auch noch die letzten Überreste von Gefühl für alles ablegen. Aus dieser Leere resultiert eine schauerliche Entschlossenheit, mit erbarmungsloser Logik immer noch kaltblütigere Mittel zum Erreichen eines beschlossenen Ziels zu finden und einzusetzen. Das Schauerlichste daran ist, dass einen bei der Lektüre manchmal eine Ahnung davon ergreift, was mit dem Begriff "Faszination des Bösen" gemeint sein könnte.

Richard Lourie: Stalin. Die geheimen Aufzeichnungen des Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili. Roman. Luchterhand-Literaturverlag, München 1999, 345 S., 44,- DM

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