Shareholder

Dorn im Fleisch des Kapitalismus Wohin wollen all die Leute? Marie zwängt sich in die vollgestopfte U-Bahn stadtauswärts. An der Endstation wälzt sich der Menschenstrom treppauf und ...

Wohin wollen all die Leute? Marie zwängt sich in die vollgestopfte U-Bahn stadtauswärts. An der Endstation wälzt sich der Menschenstrom treppauf und staut sich vor den Toren einer großen Halle: Aktionärsversammlung. Zutritt nur für Shareholder, die Metalldetektoren und Handtaschenkontrollen erdulden müssen.

Drinnen verteilen Hostessen in blauen Kostümen Hochglanz-Bilanzen und Geschäftsberichte. Auf einem großformatigen Bildschirm wirbt ein Frosch für Naturschutzprojekte, die der Konzern sponsort. Er fördert außerdem Künstler, soziale Initiativen, und, ganz nebenbei, König Fußball, das neue Stadion, schau, da steht das Modell, unübersehbar mit dem Konzernnamen gekrönt.

An Theken mit Schnittchen, Kuchen und Getränken stärken sich bereits erste AktionärInnen, doch Marie geht weiter. Sie will hören, was Vorstand und Aufsichtsrat zu erzählen haben. Das ist eine ansehnliche Anzahl von Sakko-Herren auf einer Bühne, eine Dame ist auch dabei, versteckt, in zweiter Reihe. Der große Vorsitzende hat das Wort, berichtet über das abgelaufene Geschäftsjahr. Leidenschaftslos und ausgefeilt. Sein Gesicht wird auf riesige Leinwände projiziert, die tiefenscharf jede Falte, jeden Altersflecken wiedergeben.

Auch vor der Bühne sitzen Männer in Anzug und Schlips, dazwischen vereinzelt Damen im Kostüm. Sie alle graben in Aktenkoffern, blättern durch Papiere, machen Notizen. Einige werden zum Mikrofon gehen, Kritik äußern und Forderungen stellen. Schon steht der erste auf, er vertritt eine Gruppe von Kleinaktionären. Die Männer auf der Bühne und er am Rednerpult; sie kennen sich seit Jahren.

Neben Marie sitzt eine besonders kritische Aktionärin, auch sie schon lange dabei. Sie will über frühere Finanzspritzen an das Apartheid-Regime in Südafrika sprechen, wenn sie an der Reihe ist.

Die Wortmeldungen werden gesammelt, eine Fragerunde dauert Stunden. Der Konzern antwortet langatmig, mäßig informativ, bei brenzligen Fragen ausweichend. Auch einige Kritiker nerven, Selbstdarsteller, die sich gern reden hören, obwohl sie nicht viel zu sagen haben: Ein Aktionär breitet sich schwäbisch ausführlich über eine misslungene Kundenberatung aus, eine Sachbuchautorin wirbt für ihr Buch über Börsentipps, ein enttäuschter Mitarbeiter gibt seinen Frust über Abteilungsinterna preis. Die Bühnenbesetzung ist gelangweilt, manchmal ungeduldig, vor allem wenn die Redezeit überzogen wird. Darauf weist der Vorsitzende unerbittlich hin, fordert ein Ende des Wortbeitrags. Manchmal und wider Willen verspürt Marie Erleichterung, wenn er damit Erfolg hat.

Die Ränge leeren sich. Auch Marie fühlt sich erschöpft, folgt dem Schild "Catering" und findet die flüchtigen AktionärInnen im Nebenraum wieder: an Stehtischen bei Fleischspießen und Käsehappen, Hühnerbeinen und Kuchenstücken. Dazu trinken sie Kaffee, Limo, Bier oder Wein. Partyfrohes Stimmengewirr, vor der Damentoilette die Volksfest bekannten Warteschlangen. Auf die Direktübertragung der Saaldiskussion scheint niemand zu achten. Schlucken die kleinen Aktionäre, um sich für Kursverluste schadlos zu halten?

Marie ist diszipliniert, geht zurück in die Arena, sie hat es der kritischen Aktionärin versprochen. Die darf sieben Stunden nach Beginn der Veranstaltung endlich ihre Fragen stellen. Inzwischen ist es leer geworden im Saal und in den Zugängen, die Caterer packen zusammen. Der Vorsitzende fühlt sich für die Altlasten nicht zuständig, wiegelt ab. Die Apartheid-Gegnerin lässt sich nicht beirren, bleibt hartnäckig und Marie bewundert ihr Durchhaltevermögen. Denn sie schafft es nicht einmal bis zur Konzernantwort - sie schleicht hinaus, in Luft und Sonne. Und sinnt darüber nach, wie mühselig sich der Dorn ins Fleisch des Kapitalismus bohrt.

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