Das Wahlplakat als Ort der Begegnung

Europa Unsere Kolumnistin sorgt sich, dass sie für eine Rechtspopulistin gehalten werden könnte
Ausgabe 19/2019
Kein Zwang zur Reaktion: Stehen vor dem Nichts
Kein Zwang zur Reaktion: Stehen vor dem Nichts

Foto: Imago Images/Panthermedia

Neulich wurde ich beobachtet, wie ich kopfschüttelnd an drei riesigen Europawahlplakaten vorbeiging. Man grinste mir zu. Ich grinste zurück. Sekunden später hatte ich alles wieder vergessen.

Am Abend hörte ich, dass eine neue Studie herausbekommen habe, dass hierzulande sehr, sehr viele Leute mit Rechtspopulismus infiziert seien, ohne dass diese Leute es selbst bemerken würden. Ich dachte noch, vielleicht waren es immer schon so viele, nur die Diagnoseinstrumente waren bislang nicht so fein, als ich schon einschlief. Ich träumte, wie ich erneut kopfschüttelnd vor Wahlplakaten stehe und sich hinter mir immer mehr Leute ebenfalls kopfschüttelnd zugesellen. Bald schon rufen die ersten „Wir lassen uns nicht mehr veräppeln von denen da oben“, „Wir wählen euch nie wieder“, „Volksverräter“ und ähnliches Zeugs. Ich drehe mich um und wache schweißgebadet auf: War auch ich infiziert? Hatte ich in rechtspopulistischer Manier den Kopf geschüttelt? Oder konnte es zumindest so interpretiert worden sein? Schock! Was tun?

Reichte es, künftig einfach ohne Kopfschütteln an den Plakaten vorbeizumarschieren? Würde dadurch klar, dass ich zwar diese Plakate komplett bescheuert finde, aber dennoch eine stark demokratie- und europaekstatische Person bin? Natürlich nicht!

Gebraucht wird dazu das von mir adhoc entworfene Wahlplakatreaktionstheater. Es geht so: Stellen Sie sich vor, liebe Leser, Sie sehen mich von hinten, wie ich forschen Schrittes an drei gigantischen Wahlplakaten vorbeihaste. Gerade als ich das letzte Plakat schon fast passiert habe, scheine ich im Augenwinkel etwas zu sehen, was mich umhaut, was mich wegreißt aus meiner Eile, was ich unbedingt verifizieren will: Habe ich das wirklich gerade gelesen? Ja? Nein? Ich zögere einige Sekunden, dann kann ich nicht anders, als ein, zwei Schritte rückwärts zu gehen, dabei kollidiere ich – höchst günstig – mit Ihnen. Eine riesige Chance: Denn gleich kann ich mich bei Ihnen wortreich entschuldigen: „Tut mir so leid. Aber ich musste einfach gucken, steht da wirklich … [Hier, liebe Leser, beim Lesen des Textes einfach den Slogan der Partei ihrer Wahl einfügen]?“ Und dann sage ich in Ihr fragendes Gesicht hinein: „Is’ ja ein Ding: Da steht ja wirklich … [Hier, liebe Leser, wieder die entsprechenden Wörter einfügen, vielleicht: „Kommt“ oder „Kommt zusammen“]. Danach kann ich das Gespräch nach Belieben vertiefen: „Wissen Sie, wohin wir kommen sollen? Oder wo wir zusammenkommen sollen?“ Aber Sie können gar nicht antworten, weil es bereits zu einer Fußgänger-Massenkarambolage gekommen ist, in der die irrsten Diskussionen hochkochen könnten.

Deshalb müssen die eigentlich politischen Fragen schnell nach hinten durchgegeben werden, ob man für ein neues Europa ist, oder eher für ein starkes, oder für ein geliebtes, ein friedliches, ein solidarisches, ein soziales, ein Europa des Wohlstands oder für ein besseres, das der AfD-Meuthen irgendwo rechts seines Plakats zu sehen glaubt. Vielleicht könnten Sie dann, liebe Leser, irgendwann einwerfen: „He, weiß doch jedes Kind, was für Leute sich diese Plakate ausdenken. Die preisen sonst Facebook als Garant von Privatsphäre, Amazon als Top-Arbeitgeber und haben sich schon immer in kommunikative Schlachten gewagt, für die sich andere zu fein waren. So was weiß man doch!“ Das wäre ein super Einsatz, liebe Leser. Im Voraus recht herzlichen Dank. Bin schon gespannt, was ich darauf antworten werde.

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