Der brustfreie Elliot Page macht mir Phantom-Phantomschmerzen

Transmänner Niemand will zurück ins Biedermeier. Aber wohin wollen wir sonst? Eine Glosse auch zum Selbstbestimmungsgesetz
Ausgabe 29/2022
„Oben ohne“ ins Freibad: ein Traum fast jeder Frau
„Oben ohne“ ins Freibad: ein Traum fast jeder Frau

Foto: Imago

Mit klebenden Klamotten, kurz vor dem Hitzeschlag, schleppe ich mich durch den Sommer. Da kommt mir froh und gebräunt ein Jungmann entgegen – oberkörperfrei. Nach dem ersten Schock, gefolgt von Phantom-Phantomschmerzen (hiervon später mehr), denke ich: Wow – bei dem sieht man nicht mal mehr die OP-Narben, auch die Brustwarzen: perfekt! Moment mal! Mein überhitztes Gehirn erinnert sich: Die meisten Männer sind ja gar nicht operiert. Bin ich irre?

Angefangen hat alles mit der Transition von Elliot Page, wobei, hier geht’s schon los. Eigentlich müsste es ja Transition zu Elliot Page heißen, aber dann müsste ich ja auch über jene andere Person schreiben, von der der Übergang zum jetzigen Elliot Page stattfand, aber diese andere Person will der jetzige Elliot Page nicht benannt haben. Vielleicht geht es so: Ich kenne Elliot Page vor allem in der weiblichen Rolle der Vanya in der Serie The Umbrella Academy. Obwohl Vanya auch ein Eins-a-Männername ist, transformiert sich nun – in Staffel 3 – diese Vanya zu Viktor. Die Transition findet beim Friseur mittels eines Kurzhaarschnitts statt. Viktor behauptet zwar, da stecke noch mehr dahinter, doch die Serie zeigt es nicht.

Ich aber weiß es: Denn schon letztes Jahr postete Elliot Page stolz seinen nackten Oberkörper nach Amputation seiner Brüste. Da die Narben noch gut sichtbar waren, fuhr es mir gleich durch und durch. Offenbar – so erkläre ich es mir – spüre ich die Phantomschmerzen, die Elliot Page wohl nicht spürt. Phantom-Phantomschmerzen also. Mit dieser Wahrnehmungsstörung kann ich die vielen triumphierenden Endlich-oben-ohne-Bilder von Transmännern, die mir Google seitdem zuspült, nur schwer verdauen.

Deshalb weiche ich häufig erst mal auf die Begleitberichte aus: „Ich konnte es kaum erwarten, endlich oberkörperfrei herumzulaufen, schwimmen zu gehen“, „ENDLICH OBEN OHNE AM SEE SEIN!!“, „noch 14 Tage, bis ich endlich frei bin“. Dazu gibt’s, wie zum Beweis, Vorher-nachher-Bilder. Vorher: Oberkörper schamhaft bedeckt. Nachher: Freiheit! Stolz! Kampf gewonnen gegen die Beulen des Anstoßes!

Ich komme ins Grübeln. Bedeutet das nicht auch: Selbst schuld, wenn ich mich nicht operieren lasse? Dann muss ich mich halt verhüllen. Damit keiner sagt: „Sie haben Brüste, das ist störend.“ Das ist letztes Jahr einer Frau im Berliner Plänterwald passiert. Wie doof ist das denn?! Aber Rettung naht: In Göttinger Schwimmbädern läuft schon seit Mai jedes Wochenende ein „Oben-ohne-Experiment“ für alle. Erwirkt hat es eine nichtbinäre Person. Die bestand zunächst darauf, dass sie – wie jeder Mann – oben ohne rumlaufen darf, obwohl sie „störende“ Brüste hat. Andere Städte wollen nachziehen, noch bevor geklagt wird – von nichtbinären Personen mit Brüsten oder nicht operierten Transmännern.

Frauen dagegen haben derzeit kaum Chancen, „oben ohne“ einzuklagen, obwohl das visuelle Ergebnis dasselbe wäre. Schräg! Fast könnte man denken: Wünsche von Männern – ob Trans- oder Teilzeitmänner – werden wichtiger genommen als die von Frauen. Männer, welcher Art auch immer, müssen keine Rücksicht nehmen – etwa auf die Nöte von Jungmännern. Frauen müssen das. Solche Gedanken sind natürlich Quatsch, finsterstes Biedermeier! Dennoch, liebe Frauen, falls das Selbstbestimmungsgesetz so kommt wie derzeit geplant, ist es viel einfacher, wenn wir uns alle einfach als Männer registrieren, anstatt mühselig an allen Ecken für den Dresscode „oben ohne“ zu kämpfen. Um gesellschaftlich nicht in die 50er Jahre zurückzufallen, wird Frauenförderung noch zu Transmannförderung umbenannt. Dann haben wir die größten Probleme erst mal gelöst.

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