Kino im Kopf

Die Ratgeberin Unsere Kolumnistin mag es bei der Lektüre gern anschaulich und empfiehlt Autoren, sich dementsprechend aufzurüsten
Ausgabe 24/2017

Der Rat lautet: Man soll, wenn man wie ich am Tisch sitzt und auf den Baum im Innenhof schaut, auf keinen Fall „Baum“ in den Computer tippen. Denn, was heißt schon Baum? Darunter kann sich doch keiner etwas vorstellen. Gute Schreiber brauchen daher Pflanzenbestimmungsbücher. Dann wissen sie: Im Innenhof haust eine Schwarzerle. Das schafft gleich eine besondere Atmosphäre.

In der Tat lese ich gerne Texte, in denen Schwarzerlen und andere mir unbekannte Lebewesen auftreten oder in denen sogar extra erwähnt wird, dass sie nicht auftreten. Gerade bin ich im Logbuch eines Schwimmers des tollen Roger Deakin auf folgenden Satz gestoßen: „Keiner Wühlmaus würde es im Traum einfallen, sich in dieser Gegend umzutun, gewiss auch keinem Otter, keinem Blutweiderich oder der knotigen Braunwurz.“ Kaum kann ich beschreiben, was für Szenen sich bei der Lektüre in meinem Kopf abspielen. Blutweiderich und knotige Braunwurz, großartig schaurig hören die sich an, woraus ich schließe, dass eine Gegend, die weder den einen noch den anderen enthält, derart trostlos öde sein muss, dass man sie gar nicht direkt schildern kann. Ein Nichts von einer Gegend.

Wobei das komplett falsch sein kann. Vielleicht sind Blutweiderich und die knotige Braunwurz genauso hässlich wie meine Schwarzerle. Da ist auch mehr Schein als Sein. Sie klingt lauschig, aber ist – den Großteil des Jahres – ein grauenvoller Baum, trister gehts kaum noch. Im Herbst treibt sie ihre sogenannten Nussfrüchte aus und die hängen dann den ganzen Winter über als bräunlich abgestorbenes Gebammel an ihren toten Ästen. Ein niederschmetternder Anblick, an den wohl die wenigsten denken, wenn sie von Schwarzerlen lesen. Oft schon ab Januar wird es noch schlimmer, wenn sie als Frühblüher ihre sogenannten Kätzchen sprießen lässt, um Anemophilie – also Sex per Wind – zu betreiben. Sprich: Auftakeln für Bienen ist überflüssig. Entsprechend verwahrlost steht die Schwarzerle rum. Bis tief in den Mai hinein baumeln ihre „Kätzchen“, gehenkten Regenwürmern gleich, an den kahlen Ästen. So viel zur Schwarzerle.

Die Frage ist: Wie viele Leser denken das mit? Oder: Wenn Schreiber sich mit Bestimmungsbüchern aufrüsten, müssen Leser dann nachziehen? Und schließlich: Warum wird nur um Pflanzen und Tiere so ein Bohei gemacht? Noch nie habe ich gelesen, ich soll nicht „Tisch“ schreiben. Dabei, was heißt schon Tisch? Einmal war ich bei einer Lesung des österreichischen Schriftstellers Franzobel. Mit Pappgeweih des Ikea-Elchs auf dem Kopf trug er vor, wie unter turbulenten Liebesaktionen der Couchtisch Glasholm, das Polster Blomma sowie der Teppich Vedbaek zu Schaden kommen, während die Vorhänge Marlis und Birte einfach weiterwehen. Toll. Das war konkret für alle Zuhörer. Aber für die Welt außerhalb von Ikea?

Ein Wahnsinn, wie viele Bestimmungsbücher ich bräuchte, denke ich, während ich an meiner Multiplex-Sperrholzplatte sitze, die mit einem weißtransparenten Phenolharzfilm bedeckt ist. Gehalten wird sie von zwei Stahlrohrböcken, von denen der Hersteller sagt, sie seien pulverbeschichtet. Pulver?! Ja, aber was für ein Pulver? Da schweigt der sich fein aus. Unfassbar! Wie sollen mit solchen Herstellern gute Texte entstehen? Ich werde ihn kontaktieren und die korrekte Bezeichnung in der nächsten Kolumne nachreichen, beschließe ich und schaue auf meine liebliche Schwarzerle. Jetzt, in diesen Sommermonaten macht sie ihrem romantischen Namen wirklich alle Ehre.

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