Wenn der Hals kratzt: Krank melden! Das ist besser so – für alle

Gesundheit Viele Deutsche gehen auch krank zur Arbeit. Doch dieses Arbeitsethos schadet der Wirtschaft viel mehr als das „Blaumachen“
Ausgabe 41/2022
Macht blau! Eine Woche krank sein, schadet der Wirtschaft nicht
Macht blau! Eine Woche krank sein, schadet der Wirtschaft nicht

Foto: Imago/Westend61

Ich wache mit üblen Halsschmerzen auf, kann kaum sprechen. Es hilft nichts, ich muss mich krankmelden. Dazu – so die Vorschrift – soll ich anrufen. Gut! Nein, überhaupt nicht gut. Denn damit beginnt mein Dilemma. Schon bevor ich zum Handy greife, teste ich unwillkürlich meine Stimme. Klinge ich überhaupt krank? Krank genug, um nicht als Simulant verdächtigt zu werden? Ich krächze etwas vor mich hin. Oweia. Das wirkt komplett übertrieben, wer soll das glauben?

Schon letzte Woche hat mich diese idiotische Tortur vom Telefonat abgehalten. Krächzend hielt ich so jener „sehr beachtlichen“ Erkältungswelle stand, die laut RKI gerade durchs Land schwappt. Einen Kollegen nach dem anderen raffte es dahin. Ich knarrte weiter. Ab Mitte der Woche erkannten die verbliebenen Kollegen meine Stimme nicht mehr. Sie warnten: „Pass bloß auf! Das hört sich nicht gut an.“ Sollte ich mich nun auch krankmelden? War ich denn krank? Ich fühlte mich eigentlich ganz fit. Nur die Stimme – nun ja. In der Woche vom 26.9. bis 2.10. meldeten sich in Deutschland 7,6 Millionen Leute und ich krank – wegen Husten, Halsschmerzen & Co. Das sind deutlich mehr als zur gleichen Zeit in den vergangenen sechs Jahren, also auch zu Zeiten, in denen Corona noch ein Bier war.

Und: Die Coronainfizierten kommen aktuell noch obendrauf. Diese Zahlen beruhigen mich. Denn wenn es gerade so viele trifft, ist es unverdächtig, dass ich auch dabei bin. Unverdächtig? Was denke ich nun schon wieder für einen Quatsch? Ist das nicht verdächtig, dass ich solche Gedanken habe? Bin ich doch ein eingebildeter Kranker? Jetzt, nachdem ich einen Tee getrunken habe, höre ich mich schon besser an. War es betrügerisch, mit ausgetrocknetem Hals anzurufen?

Und so geht es dahin. Es ist quälend. Deshalb verteile ich üblicherweise lieber meine Viren und Bakterien an Kollegen, als mich krankzumelden. Diese Marotte ist nicht nur menschlich rücksichtslos, sondern schädigt auch die Wirtschaft, lese ich. Allein bin ich damit aber nicht: Jeder zweite Berufstätige geht krank zur Arbeit, ergab eine Umfrage der GfK aus dem Jahr 2017. Sie nennen es Präsentismus. Betroffene leisten dann nicht nur minderwertige Arbeit, sondern verschleppen auch ihre Krankheiten – so wie ich. Als ich bei der Hals-Nasen-Ohren-Ärztin nachfrage, wie ich meine Stimme für morgen wieder fit bekomme, schaut sie mich entgeistert an: „Sie sind überhaupt nicht arbeitsfähig. Und da gibt es auch überhaupt keine Wahl.“ Beschämt nicke ich. Doch schon auf dem Nachhauseweg überfällt mich die Frage, ob ich nicht auch ihr was vorgespielt habe – unbewusst natürlich.

Weiter überlege ich, ob auch krankhafter Präsentismus ein Grund für eine Krankmeldung sein könnte. „Ich kann heute nicht kommen, weil ich merke, dass ich krankhaft fixiert unbedingt erscheinen will.“ So vielleicht? Aber: Weiß mein Arbeitgeber, wie schädlich Präsentismus ist? Nämlich viel schlimmer als Absentismus!

Schätzungen aus dem Jahr 2018 zufolge entsteht durch das „Blaumachen“ ein Gesamtschaden in Höhe von rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Summe nennt der Münchner Arbeitsrechtler Gerd Kaindl. Für den Präsentismus hingegen wurde ein Wertschöpfungsverlust von 225 Milliarden ausgemacht. Diesen stolzen Betrag meldet mit Blick auf die jüngere Vergangenheit zumindest eine Studie der Strategieberatung Booz & Company. Als ich zu Hause im Bett die Zahlen vor mir habe, bringt mich das ins Grübeln. Ist demzufolge der gepflegte Absentismus nicht für alle Beteiligten das Beste? Zudem scheint ja noch locker Luft für ein paar weitere Absentisten in spe – wie mich. Nächstes Mal, wenn der Hals kratzt, mach ich einfach blau.

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