Feierabend: Ich radle unter der lauschig belaubten Wartburgstraße in Berlin-Schöneberg. Meine Haare flattern im Sommerwind. Es ist herrlich. Gleich kreuzt die Gothaer Straße. Ich schaue links in sie hinein. Ob er heute kommt? Anders als vor zwei Monaten gucke ich kaum noch nach rechts. Nicht schlau, aber als ich damals nach Leuten von rechts Ausschau hielt, rollte von links ein Volldepp mir beinahe in die Reifen. Nicht etwa, weil er mich nicht gesehen hätte, wir hatten bereits Augenkontakt gehabt. Er wollte mir eine Lektion erteilen. Ich strauchelte und rief „Hups!“ Er äffte mich aus dem offenen Fenster und brüllte: „Vielleicht nächstes Mal gucken!“ Verwirrt und sprachlos radelte ich weiter.
Hatte der wirklich Vorfahrt gehabt? Mehrtägige penible Überprüfungen am Tatort ergaben: Nein. Der Typ hatte sich das einfach eingebildet. Seitdem hoffe ich auf ein Wiedersehen. Dann bin ich natürlich schlagfertiger. „Wie? Nächstes Mal gucken soll ich?“, pfeife ich ihn an, während ich langsam zu seinem Autofenster schreite: „Vielleicht könnte ich nächstes Mal auch die Polizei rufen! Moment, warten Sie, es ist ja schon nächstes Mal ...“ Und dann zücke ich mein Handy. Oder ich tue ganz ahnungslos: „Ja, was genau soll ich denn bitte gucken?“ Im Grunde bin ich froh, dass das Wiedersehen noch bevorsteht, damit ich mir bessere Entgegnungen ausdenken kann, witzigere, vernichtendere. Welche könnten das sein? Während ich sie vor mich hin murmle, schießt plötzlich ein Autoheck vor mir aus den Parklücken. Ich wieder: „Hups!“, kann aber gerade noch rechtzeitig eine Kurve fahren. Zum Glück ist hinter mir keiner. Die erschreckte Autofahrerin macht entschuldigende Zeichen. Ich trete weiter.
Im Allgemeinen fahre ich vorsichtig, aber eben auch viel, gut zwei Stunden jeden Tag – quer durch Berlin. Im Berufsverkehr. Ich fahre in Schlangenlinien, damit Autofahrer den größtmöglichen Abstand zu mir halten. Ich biege niemals links ab. Ich beharre nie auf meiner Vorfahrt, außer in der Wartburgstraße. Dennoch: Autotüren können unvermutet aufgerissen werden, und dann heißt es nachher: Wieso trug diese Tante keinen Helm? Unverantwortlich! Ist es Verleugnung? Ist es Dummheit? Borniertheit? Bequemlichkeit? Oder ist meine Risikotoleranz wirklich so hoch?
Für die normalen Helme habe ich Rechtfertigungen parat. In manchen Fällen mögen sie schützen, in anderen aber auch nicht. Der sogenannte Fahrrad-Airbag allerdings, der sich im Fall der Fälle wie eine riesige Trockenhaube über den Kopf stülpt, der leuchtet mir eher ein. Mittlerweile tragen schon sechs Leute, denen ich jeden Morgen begegne, so ein blinkendes Halseisen. Im Treppenhaus begegne ich meiner Nachbarin – auch sie mit der neuen Halskrause. Am Abend schaue ich mir auf Youtube Crashtests mit diesem Helm an. Tolle Sache. Was aber passiert, wenn der Airbag aufgeht und ich trage meinen Regenhut? Wenn ich gleichzeitig dann noch eine Airbag-Weste trage, bin ich sicher erwürgt.
Der Airbag kostet mehr als mein Fahrrad. Im Gegensatz zu Letzterem kann er nur ein einziges Mal seine Funktion erfüllen. Dann ist er kaputt. Das Internet rät, ihn auf stark holperigen Straßen lieber kurz auszuschalten. Denn – wie der Hersteller schreibt: Der Airbag reagiert lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Raffiniertes Geschäftsmodell!
Ich spare jetzt auf ein Exemplar. Dann, eines Tages in der Wartburgstraße: Ich radle, die Haare flattern im Wind, es ist der Tag der Tage, von links rollt der Volldepp heran, will mir Lektion Nummer zwei erteilen. Ich bremse so ruckartig, dass direkt vor seiner Windschutzscheibe der Airbag zündet. Und Knall! Puff! Ich verwandle mich in eine Art Alien. Das wär’s.
Kommentare 8
Hauptsache alles blinkt und flimmert und zwingt Leute ohne verdunkelte Scheiben zu nächtliche Sonnenbrille.
Als ob die UFO-Beleuchtung der klimaschändenden Vergaser nicht schon widerlich genug blenden würde.
Ich freue mich so aufs autonome Fahren:
Endlich als Radlrambo - "Red Light Go!"(*) - mitten in die Kreuzung ballern.
Aber bis dahin sind Fahrräder wohl genau deshalb verboten.
Wahrscheinlich werden sie sogar noch viel früher verboten, damit CO-2-gedopte "Fahrräder" Platz haben; Investoren wollen es.
Da fällt einem der nie thematisierte Skandal ein, daß Otto Normal Kunde auf dem "Freien Markt" 12 Monate auf einen e-"Scooter" warten mußte, damit "Startups" sich als kapital-soziale Parasiten selbstverwirklichen können.
(*): Bester Film nach Themrock
Das Problem ist die Infrastruktur. Vor eine paar Jahren hatte ich in Kopenhagen zu tun. Dort fiel mir der starke Fahrradverkehr auf, und dass man keine Helme sieht. Das Radwegenetz ist sehr gut ausgebaut, mit breiten Radwegen und eigenen Ampelphasen für Radfahrer. Gefährliche Berührungen mit dem Automobilverkehr werden vermieden. Und vor dem Hauptbahnhof ein riesiger Fahrradparkplatz.
Kopenhagen war nicht immer eine Radfahrerstadt, sie haben das vor knapp 30 Jahren von Amsterdam abgeschaut und ihre Verkehrswege ein bisserl umgebaut. Es geht also wenn der poilitische Wille vorhanden ist.
Ich wohne übrigens in einem Vorort nahe München, knapp 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Hier kann ich dem Strassenverkehr weitgehend ausweichen und fühle mich auf dem Rad sicher. Nach München nehme ich die S-Bahn, mit Fahrrad wäre es mir zu gefährlich.
Ja, das ist eine treffende Beschreibung. Infrastruktur und politischer Wille. Das Fahrrad ist als Technologie älter als das motorgetriebene Automobil. Neben dem anderen ausgeklügelten mechanischen muskelkraftbetriebenen Mobilitätsprinzip, der Kutsche, war es Vorbild der frühen "Motor-Kutschen". Erster Daimler > Kutsche / erster Benz > Fahrrad.
Das Fahrrad (nicht das e-Bike) ist eine tatsächlich grüne Technologie, deren Möglichkeiten wunderbar sind. Du kannst Stadtwege erledigen, reisen, transportieren - und hältst dich auch noch fit dabei. Und ganz ohne Schadstoffemission.
Aber die systemischen (infrastrukturellen) Bedingungen sind hierzulande immer noch beschämend bescheiden. Stadtradwege als Notlösungen, die eher dem Geh- als dem Autoraum abgezweigt werden, die (meist ohne Sanktionen) zugeparkt, im Winter nicht schneeberäumt werden. Hybride ÖPNV-Strukturen? Naja, ein paar Wagen auf der Bahn mit Radabteilen, im Sommer oft hoffnungslos überfüllt. Der Raum für's Radfahren ist also immer noch eher Mangelware. Was auch inzwischen zu dem üblichen Konkurrenzverhalten unter Radlern (weniger unter Radlerinnen :-)) führt, das derselben Mentalität entspringt, die auch der Audi-A7-Fahrer auf den Überholspuren der Autobahnen ohne Tempolimit hat.
Dass der politische Wille fehlt, das so zu ändern, wie es andernorts als realistisch vorgemacht wird, ist eigentlich eine zu pauschale Erklärung für die Missstände. Auch dieses Thema ist umkämpft, d.h. hier finden beinharte Interessenkämpfe statt. Das kann man in Berlin beobachten (Verkehr, das zweite Kampfthema neben der Wohnungsfrage), oder in Halle/Saale, wo zur jüngsten Landtagswahl auch die Entscheidung anstand, ob ein Konzept der Stadtverwaltung für eine autoarme (arme, nicht "freie"!) Innenstadt realsiert werden soll oder nicht. Die rechte Autolobby, repräsentiert von CDU, FDP und AfD führte eine schamlos demagogische (und sehr teure) Kampagne durch, die z.B. statt "auto-arm" von zwangsweise "auto-frei" sprach, um den Innenstadtbewohnern mit Autos oder den von Lieferungen abhängigen Innenstadthändlern Angst zu machen. Und sie nannten ihre Kampagne "Innenstadt für alle" (!), um zu suggerieren, dass Menschen, die Autos besitzen, die Innenstadt verwehrt werden sollte. Dass die Allianz aus CDU, FDP und AfD, die sich für die armen corona-gebeutelten Menschen, denen das lebensrettende Autofahren verwehrt werden soll, einsetzen, sogar noch stolz betont wurde, ist nur noch das i-Tüpfelchen. Man setzte sich schließlich durch. Die Autofahrer dürfen weiterhin alles zuparken und in den engen Straßen bei Gegenverkehr übern Gehweg fahren und sich dabei Mühe geben, keine Kinderwagen oder Rollatoren zu touchieren.
Hier mangelt es nicht an politischem Willen, hier stehen sich politische Willen und dahinterstehende Lobbys antagonistisch gegenüber. Das alles sind Zeichen für das, was gerade läuft: rücksichtsloser Interessenkampf. Die Seite, wo das Kapital in der Waagschale liegt, wird sich wieder morgen wieder durchsetzen.
:-)
>>Hier mangelt es nicht an politischem Willen, hier stehen sich politische Willen und dahinterstehende Lobbys antagonistisch gegenüber. Das alles sind Zeichen für das, was gerade läuft: rücksichtsloser Interessenkampf. Die Seite, wo das Kapital in der Waagschale liegt, wird sich wieder morgen wieder durchsetzen.<<
Ja. "politischer Wille" war ein bisserl zu kurz dargestellt. Dass wer viel Geld bewegen kann ein kleinen Teil davon einsetzt, um "politischen Willen" zu kaufen war mitgemeint.
Ergänzung: Im Rahmen der "political correctness" soll man den Kauf von politischem Willen natürlich niemals als Korruption bezeichnen.
Wie mans nimmt. Hier hat man in einigen Straßen Platz fürs Rad geschaffen, nun müßte eigentlich der Busverkehr eingestellt werden, weil die Busse sich nicht mehr begegner können ohne die Radspuren zu befahren, das sie eigentlich nicht dürfen. Kuppeln, Gasgeben, Schalten und bremsen hat sich vervielfacht.....dieVerschmutzung und der Verschleiß ebenfalls. Teilweise werden die Radspuren kaum benutzt, wer will schon 3km lange starke Steigungen nehmen. Ältere sowieso nicht.
Es gibt viele Straßen die so schmal sind, daß ein normales Auto gar nicht mehr auf die Spur passt. Bei einem Unfall mit einem Radfahrer ist dann der Autofahrer schuld.
Also muß der gesamte Autoverkehr weg, leben wie in Ländern die sich kein Auto leisten können. Bei Zuwanderung von sehr billigen Arbeitskräften mit Lastenrädern wäre das zum Teil möglich.
Lastenräder mit ordentlicher Zuladung und länger als die bisherigen. Überdachung und breiter. Mehrsitzig sollte auch drin sein.
"Der Airbag kostet mehr als mein Fahrrad. Im Gegensatz zu Letzterem kann er nur ein einziges Mal seine Funktion erfüllen. Dann ist er kaputt. Das Internet rät, ihn auf stark holperigen Straßen lieber kurz auszuschalten. Denn – wie der Hersteller schreibt: Der Airbag reagiert lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Raffiniertes Geschäftsmodell!"
Hm, die Autorin hätte es also lieber er löst einmal zuwenig aus als einmal zuviel. Dann würde sie wohl das kritisieren.
Die Autorin hat sicher auch übersehen, daß im Airbag ein Explosivkörper untergebracht ist der nur einmal zünden kann. Möchte sie ihn wieder zusammenfalten und einen neuen "Sprengkörper" montieren? Ist er dann noch zuverlässig?
Ebenso hat die Schreiberin vergessen, wann er denn ihrer Meinung nach auslösen sollte. Das läßt sich vom Hersteller einstellen. Man muß sich nur darauf einigen, wer bei welchem Aufprall ihr gerne ausgelöst haben möchte.
Für die Sparfüchse natürlich besonders spät, sonst kostet es ja einen neuen.