Newton sei Dank

Die Ratgeberin Früher oder später kommt die Muße, man darf nur nicht auf ein Ergebnis warten
Ausgabe 24/2015

Ba, ba, ba … Träge auf dem Sofa rumhängend trällere ich vor mich hin und betreibe Muße. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ich da so gut reinkomme. Vorgestern noch war ich ein moderner Mensch, hetzte am Rand des Burn-outs atemlos durchs Internet und entdeckte dort einen Muße-Propaganda-Artikel. Die Muße halte uns gesund und mache uns einfallsreich. Ohne Muße wüssten wir nicht mal was von der Schwerkraft. Nie wäre nämlich Newton darauf gekommen, hätte er nicht müßig in seinem Garten sitzend beobachtet, wie ein Apfel zu Boden fiel. Toll!

Sogleich will ich Newton nacheifern und flüchte mich vom Schreibtisch auf einen Sessel. Da sitze ich dann. Neugierig inspiziere ich mein Arbeitszimmer nach unentdeckten Naturgesetzen. Aber: Nichts passiert! Wahrscheinlich weil hier nirgendwo was runterfallen kann. Das bringt mich auf die Idee, alles umzustellen. Prima. Schon springe ich auf und … stopp! Newton entdeckte die Schwerkraft, und ich schiebe Möbel hin und her? Da stimmt etwas nicht. Auch war ich nur 28 Sekunden lang müßig. „Wir müssen Muße erst wieder lernen“, sagt die Psychologin Iris Hauth. Dazu sollten wir uns in den Terminkalender einfach mal „Nichtstun“ eintragen.

Das mache ich. Morgen, Dienstag, zehn bis elf Uhr: „Nichtstun“. Mitten in der Kernarbeitszeit. Eine super Herausforderung. In der Tat: 24 Stunden später schleppe ich mich widerstrebend zum Sessel. Ich hätte echt Besseres zu tun, als hier rumzusitzen. Aber gut, wer Naturgesetze entdecken will, muss Opfer bringen. Also: Muße, Muße, Muße.

Ich schaue auf die Uhr. Schon eine Minute Muße erlebt. Wichtig dabei ist, dass man sie ohne eine bestimmte Absicht angeht. Eben. Deshalb funktioniert es auch nicht, dass ich hier sitze und auf Erfolge warte. Ich muss freier werden. Einfach machen, was mir in den Sinn kommt. Vielleicht mal … US-Serien streamen? Am helllichten Tag! Das wäre doch echte, schöne Muße. Aber: Experten sagen Nein! Fernsehen gilt nicht als Muße. War ja klar! Während der Muße müssen die Gedanken schweifen. Buch lesen? Ja, Buch lesen ist okay, wenn man zwischendurch hochguckt und schweift. Ich schnappe mir Muße von Ulrich Schnabel. Blättere. „Im Paradies der Nickerchen“, „Das Glück der Meditation“, okay, aber hier: „Vom Leerlauf zum Geniestreich“. Sehr gut! Mit dem Kapitel fange ich an. „Bestimmte Gehirnareale …“, lese ich, und: Dring! Der Wecker läutet. Schon? Schon elf Uhr? Bin wohl eingenickt. Und das, obwohl ich doch morgen diesen Text hier schreiben muss! Um doch noch auf den Geniestreich zu kommen, verbringe ich den gesamten Abend im Leerlauf. Unnötig anzumerken, dass ich auch diesen Versuch komplett verschlafe.

Ungewöhnlich ausgeschlafen starte ich in den Mittwoch. So, jetzt los. Geniestreich, erscheine! Stattdessen aber schweifen meine Gedanken unkontrolliert durch die Gegend, elegant flutschen sie über den Terminkalender hinweg, in dem heute nicht „Nichtstun“, sondern „Kolumne schreiben!!!“ steht. Aber der Muße ist das egal. Sie lässt mich den Button für die Mußenmusik drücken und zieht mich zum Sofa hinüber, wo ich dann, wie zu Beginn der Kolumne erwähnt, vor mich hin trällere: Ba, ba, ba … Da kommt der Mann rein: „Bist du krank?“ – „Nee“, sage ich entrüstet, „das ist Muße. Muss doch gleich die Kolumne schreiben.“ Während er sich noch ein Bonmot überlegt, frage ich mich, wie ich jetzt aus dieser verdammten Muße wieder rauskomme.

Von Susanne Berkenheger erschien zuletzt das Taschenbuch Ist bestimmt was Psychologisches. Für den Freitag verteilt sie gute Ratschläge

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