Smalltalkwandel: Das Wetter hat als Thema ausgedient

Kolumne Worüber kann man noch unverfänglich mit Fremden sprechen, wenn übliche Smalltalk-Themen sofort kontrovers sind und nicht mehr taugen? Die Ratgeberin hat eine Idee
Ausgabe 38/2023
Lieber Kopfhörer aufsetzen als Smalltalk über das Wetter halten zu müssen
Lieber Kopfhörer aufsetzen als Smalltalk über das Wetter halten zu müssen

Foto: Unsplash

Die Ratgeberin

Susanne Berkenheger war früher Netzliteratin (Zeit für die Bombe) und Satirikerin (SPAM bei Spiegel online)Für den Freitag schreibt sie sehr gerne ihre Kolumne „Die Ratgeberin“.

Hagelumpeitscht werfe ich mich in einen Pulk von Menschen, die sich bibbernd unter einem Torbogen zusammengerottet haben. „Interessantes Sommerwetter“, hätte ich vielleicht vor vier Jahren noch zu den Umstehenden gesagt. Damals galt ja noch: „Nichts ist unverfänglicher, als ein Gespräch mit einem Thema wie dem Wetter zu beginnen.“ (O-Ton Psychologe Patrick Voßkamp) Denn: „Damit verprelle ich niemanden.“ Sein Berufskollege Gerhard Reese sekundierte damals: „Das wirkt wie ein sozialer Kitt.“

Spätestens seit diesem Sommer gilt jedoch das genaue Gegenteil: Nichts ist verhängnisvoller, als ein Gespräch mit dem Thema Wetter zu beginnen, ich verprelle damit fast jeden, das Thema wirkt wie eine soziale Abrissbirne. Deshalb stehe ich heute, vier Jahre später, stumm und ratlos zwischen den Durchnässten – ohne jeden Kitt. Stattdessen erinnere ich mich an die Begegnung mit der Nachbarin vor zwei Tagen. Sie waren auf Amrum, ich Blödian frage, wie das Wetter war, ob sie baden konnten. Es dauert zwei Sekunden, bis wir beim Klimawandel sind. „Wo das noch hinführt?“, fragt sie deprimiert.

Einen Tag später berichtet mir eine Kollegin von der Radtour durch ihre Heimat Mecklenburg-Vorpommern – im prasselnden Regen, auf durchweichten Campingplätzen und in klammen Klamotten. „Solche Sommer gab es doch schon immer“, hätten die dort alle dazu gesagt. „Das sind echt schlimme Klimaleugner!“, erzählt sie, ebenfalls mutlos. Immerhin schickt der Sohn aus der Hitzewelle in Paris ein sehr lustiges Instagram-Video, in dem ein Franzose eine Crêpe „canicule“ (Hitzewellen-Crêpe) zubereitet, ohne einen Herd zu benutzen. Über die Pariser Temperaturen habe ich schon Hunderte von Kommentaren gelesen. Immer dasselbe: Die einen sagen: „Seht es endlich ein: Das ist der Klimawandel!“ Die anderen: „Seht es endlich ein: Das ist nur ein Wetter, das gab‘s schon immer.“

Essen, Urlaub, Kleidung? Alles ist Politikum geworden

Eine sinnlose Debatte. Denn es geht ja um die Häufung von Wettern, und die lässt sich nun mal schlecht so direkt erleben. Wie auch immer, welches Thema also könnte Fremde, die unterm Torbogen kauern, heute sozial zusammenkitten? Sollen sie vielleicht über das Thema „Torbögen“ philosophieren? „Neulich stand ich unter einem anderen Torbogen in der xy-Straße. Waren Sie da auch schon mal?“ Denn nicht nur das Wetter ist als Smalltalk-Thema kaputt, ebenso Essen (hochpolitisch, schnell eskalierende Wirkung), Urlaub (Wie ist man denn da hingekommen? CO2-Verbrauch?), Kleidung (fair oder unfair gehandelt? Und erst der Müll?). Obacht gilt auch bei Wettervorhersagen. Wegen der klimawandelbedingten Zunahme von Extremwetter werden sie immer ungenauer. Ein, zwei unverfängliche Themen gibt es schon noch, etwa Gesellschaftsspiele. Aber man kann wohl kaum, eingequetscht unterm Torbogen, den anderen fragen: Spielen sie auch so gerne Mensch-ärger-dich-nicht?

Nein, liebe Leser, ich habe alles gründlich analysiert, es bleibt uns für den Moment nur ein Thema für den Smalltalk, das die nötige Belanglosigkeit mit dem nicht zu ignorierende Wetter verbindet: Frisur! Das mag Sie vielleicht erstaunen, aber denken Sie es erst mal durch. Ist es sehr heiß, kann ich sagen: „Manchmal wünsche ich mir eine Glatze!“ Im Starkregen: „Ausgerechnet wenn ich mal mit Wet-Gel glänzen will, sehen plötzlich alle so aus.“ Im Hagel: „Ich glaube, Sie haben da ein Hagelkorn in der Frisur, sieht toll aus, Swarovski-Stil!“ Schön unoriginell und unverfänglich. Etwas weniger Persönliches wäre natürlich besser. Aber ich glaube, außer „Frisur“ sind inzwischen alle Themen zum Politikum geworden.

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