Terrorzone: Kreativszene

Die Ratgeberin Wenn das komplette Umfeld vor Geistesblitzen nur so strahlt, überrascht nur noch die Normalität. Auf der Suche nach einer überraschungsfreien Zone
Ausgabe 26/2016

Wer wie ich in einem hochinnovativen, hochkreativen und hochdynamischen Umfeld lebt, umgeben von hochinspirierten Menschen, die einen Geistesblitz nach dem anderen raushauen, der hat irgendwann das Problem, dass Überraschungen ihn nicht mehr überraschen. So ergeht es mir. Für mich ist die Überraschung das Normale.

Von meinem Mann zum Beispiel erwarte ich täglich einen überraschenden Morgengruß. Denn nur sehr selten überrascht er mich damit, dass er einfach „Guten Morgen“ sagt, ohne dies mit einem skurrilen Akzent anzureichern oder durch eine konterkarierende Geste zu verrätseln. Wenn ich später die drei hochkreativen Straßen abgehe, die ich für gewöhnlich passiere, und an einer Litfasssäule vorbeikomme, die von oben bis unten mit schwarzen Luftballons übersät ist, denke ich nicht: „Wow, was ist das denn?“, nein, ich denke, und zwar missbilligend: „Das ist doch wieder so eine kreative Marketingaktion, die mich überraschen soll.“ Aber nicht mit mir!

Unbeeindruckt marschiere ich vorbei, dem nächsten Mast zu, auf dem der Aufkleber „Lieb sein“ pappt. „Sicher ein Kunstprojekt, das mich mal auf andere, überraschende Gedanken bringen will“, denke ich dann, immerhin wohlwollend. Wenn ich noch später erfahre, dass einer meiner Jobs weggespart wird, denke ich nicht: „Was zur Hölle!“, sondern: „Das scheint mir eine dieser existenziellen Überraschungen zu sein, mit denen mich unser Wirtschaftssystem zu immer neuen kreativen Höchstleistungen anspornen will.“

Vielleicht würde das sogar funktionieren. Aber ich bin halt gar nicht überrascht. Dass ich so reagiere, ist reine Mustererkennung, wie sie Menschen betreiben, die faul in ihrer sogenannten Komfortzone rumhängen. Und aus dieser muss man bekanntlich raus, raus, raus. Jedes Baby weiß das inzwischen. Weil „The Magic“ nur außerhalb dieser Zone geschieht. Und das stimmt auch hundertprozentig. Deshalb katapultierte ich mich vor 13 Jahren raus aus der Komfortzone Münchens hinein in die besagten drei hochkreativen Berliner Straßen, um dort „The Magic“ zu suchen. Und zu finden!

Einerseits wirkt ja alles total normal hier, mit vielen spießigen Spatzen, Bänken, Bäumen, Laternen, aber dann, zack – total überraschend –, suchen die Leute nicht gebrauchte BMW-5er-Limousinen wie in München, sondern tagsüber ein Stundenbett wegen Schlafepilepsie. Andere benötigen dringend aufmunternde Worte unter einer angegebenen E-Mail, ein Kanarienvogel gibt seine Kontaktdaten bekannt. Vielfach empfohlen wird auch: „Schreien hilft!“ Ich liebe diese Zettel. Dank ihrer denke ich niemals mehr so langweiliges Zeugs wie „Ach, nur ein Baum“ oder „Ach, nur ein Lampenmast“.

Das Ablaufen meiner drei hochkreativen Straßen ist eine großartige Lockerungsübung für das Gehirn. Und wer mit einem gelockerten Gehirn herumläuft, hat nicht nur die besseren Ideen, sondern fühlt sich auch belebter. Wahrscheinlich wegen dieser Gehirnlockerung rechnete ich allerdings überhaupt nicht damit, dass ich in nur wenigen Jahren Hunderte von Mustern an Überraschendem, Skurrilem und Wunderlichem entwickeln würde – gerade in Bezug auf Mastenanschläge. Was ich nun bräuchte, wäre eine Art Ausnüchterungsbereich, vielleicht eine Straße, in der kein einziger Zettel hängt oder an jedem Baum und Mast genau derselbe. Überraschungsfreie Zone! Vielleicht könnte ein hochkreativer Leser da mal was initiieren. Wäre super.

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