Wie verarmter Adel

Tiere Unsere Kolumnistin hat ein geflügeltes Problem und erinnert sich alsbald daran, dass sie keine Taube ist
Ausgabe 11/2021
Fun fact: Diese kleinen Spitzen, die Tauben daran hindern sollen, sich allzu wohl zu fühlen, sie heißen „Kackstopper“
Fun fact: Diese kleinen Spitzen, die Tauben daran hindern sollen, sich allzu wohl zu fühlen, sie heißen „Kackstopper“

Foto: Horst Rudel/IMAGO

Lange, lange brütete eine Taubendynastie auf dem Baum im Innenhof. Bis eines Tages die Terrasse schräg über uns neu gemacht wurde. Dabei entstand ein offener Zwischenboden, der von den Tauben sehr schnell als soziale Aufstiegsmöglichkeit erkannt wurde. Tschüss olles, enges Nest, hallo Tauben-Loft! Zwei riesige reflektierende Vogelschreck-Herzen, die die neue Mieterin am Balkongitter befestigte, nahmen sie dafür gerne in Kauf. Auch mit den zehn Rundbürsten in der Regenrinne vorm Loft-Eingang, die eine Woche später hinzukamen, arrangierten sie sich.

Wie es aber oft bei zu komfortablen Wohnungen so ist: Die Kinder ziehen nicht aus. Die Tauben lebten alsbald als beginnende Großfamilie ungefähr zu viert im Zwischenboden. Die Mieterin gab sich schließlich geschlagen und zog aus. Die Wohnung blieb lange leer, die Taubendynastie florierte. Bis wieder neue Mieter kamen.

Als wir am Morgen nach deren Einzug aus dem Fenster schauten, schrien wir auf: Drei Eulen beachtlicher Größe fixierten uns (Mehrfarbig, Vogelschreck, Eule für Garten, Balkon, Terrasse, mit Wackelkopf, stehende Dekofigur 18 x 16 x 38 cm). Sie waren an das Balkongitter gefesselt, der Wind verdrehte ihnen die Köpfe. Wir verstanden die Botschaft: Hier wohnten jetzt Menschen, die scheuen vor nichts zurück. Die opfern Eulen. Die würden auch Tauben an ihre Marterpfähle hier ranhängen. Die Tauben hingegen interpretierten die Sache anders. Sie überlegten kurz und flatternd, taten dann, was – laut Internet – schon andere taten: „Die Tauben haben sich mit dem Ding vergesellschaftet!“, so eine Eulenkäuferin. Die Mieter aber konterten noch am selben Tag mit einem Raben, den sie auf die Balkonstange setzten (Taubenschreck, schwarzer Rabe, Kunststoff, 551983, von Käufern im Internet auch als „Sitzgelegenheit für Vögel“ beschimpft). Und wirklich lieben die Tauben den Raben. Doch noch nie hat jemand so patent agierende Mieter gesehen. Am kommenden Morgen war der Zugang zum Zwischenboden mit einem Maschendrahtzaun komplett verschlossen. Was für eine tollkühne Aktion! Den Zaun hatten sie mit Kabelbindern festgemacht, deren Enden wie gefährliche Stachel zwischen den riesigen Eulen aufragten. Die Taubenfamilie geriet in Aufregung: Sie flatterten und hackten auf dem Maschendraht herum. Während wir bis vor wenigen Minuten noch auf der Seite der Neumieter waren, weil die Tauben direkt vor unserem Küchenfenster alles verkoteten, kehrte sich das nun um. Was wenn eine der ihren noch drin ist? Eingeschlossen? Womöglich absichtlich? Gruselig! Tage vergehen.

Die Tauben arbeiten schon wieder an der Kreation neuen Lebens. Sie denken aber nicht daran, ihr altes Nest im Baum zu renovieren oder sich ein neues zu bauen. Stattdessen lungern sie – wie verarmter Adel – weiter vor ihren ehemaligen Gemächern herum. Sind denn alle Nestbaukundigen verstorben? Kann sich diese Generation nur noch in gemachte Nester setzen? Oder sind sie in eine Trotzhaltung verfallen? Die stecken doch in einer massiven Realitätsleugnung fest! Flüchten sich in irre Tagträume, weil sie die neue, harte Realität nicht akzeptieren können und wollen! Weil sie nicht bereit sind, sich zu verändern, sich wieder anzustrengen. Mann! Diese Tauben brauchen einen Change Manager. Jemanden, der ihnen den Nestbau wieder beibringt. Eine erfahrene Taube. Ich könnte ihnen ein How-to-Nestbau-Video auf dem Balkon vorspielen. Gerade noch rechtzeitig erinnere ich mich, dass ich keine Taube bin, schon gar keine erfahrene. Was für eine Erleichterung. Müssen sie selber gucken, wo sie bleiben. Sie warten. Vielleicht bis die Mieter wieder ausziehen. Wer weiß. Bei der vorigen Mieterin hat es ja auch geklappt.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden